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losgebunden. Erst als er sich abgestoßen hatte und schon gut zehn Meter vom Ufer entfernt war, merkte er, dass im Kahn keine Ruder lagen. Mit den Händen als Paddel wollte er zum Steg zurück, doch der Wind wehte vom Ufer her und trieb ihn nach Amerika hinüber.

      Es war ein Riesenspaß. Pech nur, dass ihn mitten auf dem See ein Boot der Wasserschutzpolizei stoppte. Sein Vater war an Bord, und alle schimpften ihn tüchtig aus. Weil er das Boot geklaut hatte und damit losgefahren war, obwohl er gar nicht schwimmen konnte.

      »Aber das … das … das Boot kann doch schwimmen«, sagte Bruno.

       1921

      Heinz Franzkes Hand war bereits oben, noch bevor der Lehrer seine Frage richtig formuliert hatte, und zudem schnipste er auch noch mit Daumen und Mittelfinger. Das wurde zwar auf dem Gymnasium nicht gern gesehen, brachte ihm aber dennoch den gewünschten Erfolg, und er wurde aufgerufen.

      »Franzke, was verstehen wir unter der Benrather Linie?«

      »Die Benrather Linie markiert in der Entwicklung der deutschen Sprache, das heißt bei der sogenannten zweiten Lautverschiebung, die Grenze zwischen dem ober- und dem niederdeutschen Gebiet.« Franzke hatte, nachdem er aufgesprungen war, kerzengerade dagestanden und so artikuliert gesprochen wie kaum ein anderer Schüler in Steglitz.

      »Und weiter?«, fragte Dr. Jerxheimer.

      »Südlich der Benrather Linie wandelten sich verschiedene Laute, und es entwickelte sich das heutige Hochdeutsch, nördlich davon – im Englischen, Holländischen oder im Platt – blieben sie bestehen. Das / ​t/ ​beispielsweise wandelte sich unter bestimmten Voraussetzungen im Hochdeutschen zu / ​ss/ ​oder / ​ts/​, also wie in water zu Wasser oder two zu zwei, und / ​p/ ​wurde zu / ​ff/ ​beziehungsweise / ​pf/​, zum Beispiel ape zu Affe oder pound zu Pfund. Zusätzlich wandelte sich das / ​d/ ​zu / ​t/ ​wie in day zu Tag oder deep zu tief. Schließlich wurde aus dem alten / ​Þ/​, das wir im Englischen heute noch haben, im Hochdeutschen das/​d/​, also thing zu Ding und thanks zu danke

      »Danke, Franzke! Setzen, Eins!«

      Bei Dr. Jerxheimer hing zu Hause über dem Schreibtisch der große Satz des Heraklit: Erziehung heißt, ein Feuer entfachen, und nicht, einen leeren Eimer füllen. Dem Erreichen dieses Zieles galt sein stetes pädagogisches Streben, obwohl er aus langjähriger Erfahrung wusste, dass es höchst utopisch war, denn nur wenige Schüler waren vom Intellekt und Willen her so ausgestattet, dass sie sich entzünden ließen, die meisten waren ganz gewöhnliche Eimer, manche sogar nur aus Blech und nicht einmal aus Emaille.

      Aber dieser Franzke war einer, bei dem sich das besagte Feuer entfachen ließ. Der war begierig danach, Wissen in sich aufzunehmen, der hatte ein ganz ausgezeichnetes Gedächtnis, der konnte wunderbar formulieren. Und außerdem war sein Verhalten durchweg tadellos. Wenn sich andere Schüler seines Alters pubertären Späßen hingaben, zog er in die Arena und trainierte, um einmal ein berühmter Mittel- und Langstreckenläufer zu werden wie Paavo Nurmi aus Finnland.

      Trotz seiner guten Noten in allen Fächern, mit Ausnahme von Musik und Zeichnen, ging Heinz Franzke keineswegs gern zur Schule, denn in seiner Klasse war er nicht übermäßig beliebt. Die einen hielten ihn für einen Streber, den anderen galt er als Schleimer, weil er sich bei Konflikten zumeist auf die Seite der Lehrer schlug, den Dritten schließlich war er zu ernsthaft und kaum einmal für Späße und Streiche zu haben.

      Dabei wäre Franzke so gern zum Vertrauensschüler gewählt worden, doch nie erhielt er mehr als drei Stimmen – seine eigene mitgezählt. Da half es auch nicht, dass er die ganze Klasse zum Essen und Trinken in die Gaststätte seines Vaters einlud.

      Nun stand wieder eine Wahl bevor, und niemand zweifelte daran, dass Robert Cholet, ein schwarzhaariger Filou hugenottischer Herkunft, nahezu alle Stimmen bekommen würde. Bis auf die von Franzke und dessen beiden Freunden Werner Rosinski und Lothar Lemke.

      Die drei tuschelten in jeder Stunde und suchten nach Möglichkeiten, um Robert Cholet die Gefolgschaft abspenstig zu machen.

      »Ich schlage ihn dermaßen zusammen, dass er für eine Weile ins Krankenhaus muss«, sagte Werner Rosinski.

      Franzke verdrehte die Augen. »Mensch, dann wird er doch zum Märtyrer, und sie wählen ihn erst recht alle.«

      Lothar Lemke sah das auch so. »Das muss man viel klüger anfangen. Wir müssen ihn in eine Falle locken.«

      Dr. Glinka, ihr Lateinlehrer, fuhr dazwischen: »Lemke, hörst du wohl auf zu schwatzen! Zur Strafe schreibst du bis morgen hundertmal Ave Caesar, morituri te salutant. Das heißt?«

      »Äh …«

      »Nicht äh! Setzen, Fünf! Sondern … Cholet?«

      »Sei gegrüßt, Kaiser, die dem Tod Geweihten grüßen dich.«

      »Richtig! Und wer bei mir keine Vokabeln kann, der ist dem Tode geweiht. Also, Rosinski: famem perferre

      »Die … äh … die Familie vollenden.«

      »Unsinn! Fames ist der Hunger, fame mori verhungern und famem perferre Hunger leiden.«

      Mit sichtlicher Freude verpasste er Werner Rosinski die nächste Fünf. Dr. Gernot Glinka war der meistgehasste Lehrer des Gymnasiums. Schule hieß für ihn Selektion, und nur wenige hielt er für auserwählt, sich mit dem Lorbeerkranz des Abiturs schmücken zu dürfen. Noten waren für ihn die Machete, mit der er sich ohne jedes Mitleid ans Ausholzen machte. Starke Bäume entstanden nur dadurch, dass man ihnen ausreichend Licht und Nahrung verschaffte, indem man die schwächeren rechtzeitig fällte.

      Eigentlich gefiel Heinz Franzke diese Einstellung, zumal er als Primus nicht Gefahr lief, ausgeholzt zu werden, aber seine Freunde Werner Rosinski und Lothar Lemke waren Wackelkandidaten. Ihre Versetzung war auch diesmal wieder arg gefährdet. Dr. Glinka hatte sie auf der Abschussliste, und niemand zweifelte daran, dass er sich bei der nächsten Zensurenkonferenz mit seiner Meinung auch durchsetzen würde. Zwar gab es Lehrer mit sozialem Mitgefühl, aber die kamen gegen Dr. Glinka nicht an.

      Dr. Glinka war ein einsamer Mensch. Das machte ihn hart. Ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer konnte er frei agieren. Nur ganze zwei Monate hatte seine Verlobung gehalten, dann war ihm klargeworden, dass er nur als Einzelgänger glücklich werden konnte. Dass er so isoliert war, hing auch damit zusammen, dass er aufgrund eines Magenleidens, das noch kein Arzt richtig diagnostiziert hatte, unter einem üblen Mundgeruch litt.

      »Mit dem an der Front hätten die Deutschen den Krieg nicht verloren«, spotteten die Schüler. »Der hätte die Alliierten nur anhauchen müssen, und ganze Bataillone wären zur Erde gesunken.«

      Tatsache war, dass alle seine Gesprächspartner bemüht waren, einen Abstand von mindestens einem Meter zu ihm zu halten, andernfalls wagte man nicht mehr zu atmen.

      »Fast wäre ich erstunken«, sagten die, die ihm zu nahe gekommen waren.

      Niemand aber traute sich, ihm zu sagen, dass er – wie der Hausmeister Leibniz es ausgedrückte – »aus dem Mund stank wie eine Kuh aus dem Arschloch«.

      Dr. Glinka selber aber nahm nicht wahr, wie es um ihn stand.

      Das alles brachte Franzke auf eine Idee. Konnte er die in die Tat umsetzen, hätte er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: seine beiden Freunde gerettet und Robert Cholet in den Schatten gestellt.

      Als sie am Sonntagabend von Rangsdorf aus, wo die Franzkes ihre Laube hatten, mit der Bahn nach Hause fuhren, steckte ein kleines, sorgfältig verschlossenes Glas in seinem Rucksack – ein Glas voll mit Jauche. Die nun füllte er am Montagmorgen ungesehen in das Tintenfass, das nach alter Sitte im Lehrertisch eingelassen war.

      Dr. Glinka kam gewohnt energisch ins Klassenzimmer und warf sein Lateinlehrbuch derart krachend auf den Lehrertisch, dass die Jauche aus dem Tintenfass schwappte und sofort ihren

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