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Zurück. Fabian Vogt
Читать онлайн.Heute würde ich sagen, dass ich mich damit vor den vielen Zweifeln und Fragen drücken wollte, die in mir ununterbrochen nach einer Antwort schrien. Man kann nicht leben, ohne zu wissen, warum. Ich jedenfalls nicht. Aber man kann sich vor den Fragen geschickt drücken. Und ich verwandte all die Energie, die ich zur Lösung meiner Probleme hätte aufwenden müssen, darauf, sie zu unterdrücken. Es war eine kalte, tote Phase. Ich fürchtete mich weniger davor, keine Antwort zu finden, als vor dem, welche Konsequenzen diese Antworten mit sich bringen könnten. Und daran hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert.
Anfang des 18. Jahrhunderts begann ich wieder zu arbeiten. Da ich als Student und auch während meiner Assistentenzeit an der Universität nebenbei auf dem Bau gearbeitet hatte, verdingte ich mich als Maurer, Polier, Schreiner oder Vorarbeiter. Eben als das, was gerade gebraucht wurde. So hatte ich wenigstens etwas zu tun, bekam drei Mahlzeiten am Tag und gewann das bisschen Ehre zurück, das ich nach dem Hingang meines jüngeren Ich weggeworfen hatte. Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück. Allerdings fand ich im Lauf der Jahre heraus, dass ich immer öfter mit Menschen zusammenkam, die nicht lesen und schreiben konnten. Daher wandte ich mich von nun an regelmäßig direkt an den Bauleiter und erbot mich, als Schreiber zu arbeiten.
Was mir neben der Arbeit an Kraft blieb, nutzte ich, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ich war überzeugt, dass ich meinen Teil am Leid der Welt bereits ausgekostet hatte. In den Pausen auf der Baustelle und am Abend befragte ich so viele Menschen wie möglich nach der jüngeren Geschichte, nicht, um mich zu bilden, sondern um mögliche Gefahren schon im Vorfeld vermeiden zu können. Ich passte mich allem an und wurde ein perfekter Vergangenheitsopportunist.
Und Ihr könnt mir glauben, Meister Van Dyck: Wer nicht leben will, kann sich auf angenehme Art davor drücken. Außerdem hatte ich genügend Zerstreuung. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schnell sich die Sprache, die Schrift, die Umgangsformen und die Werte entwickeln. Was heute gilt, war vor 100 Jahren undenkbar und wird in 100 Jahren undenkbar sein. Dabei sind es weniger die sich verschiebenden Laute oder die Wortwahl, die mir Schwierigkeiten bereiten. Es sind die Denkstrukturen, die sich verändern. Kaum ein Europäer des ausgehenden 20. Jahrhunderts kann sich noch in die völkischen Logismen einer nationalistischen Ideologie eindenken. Unabhängig von allen Schuldzuweisungen bemühen sich Historiker und Soziologen, diese grau-braune Zeit zu verstehen, aber es wird nicht gelingen. Sowenig wie ein Indianer einen Aufklärer, ein Sklavenhalter einen Sklavenbefreier oder ein Hexenverfolger eine Feministin versteht, sowenig ähneln sich ein Mensch der fünfziger und der zwanziger Jahre. Sie denken unterschiedlich. Darum ist es auch sinnlos, über andere Epochen zu richten. In ihrer Zeit waren die jeweils Lebenden gleichermaßen bestrebt, ihr Glück zu finden, wie heute.
Wer die Veränderungen der Geschichte während seines Lebens langsam zu spüren bekommt, der mag sich dagegen sträuben, letztlich verliert er aber doch und beugt sich. Wenn er denn überhaupt registriert, wie schnell die Welt ihr Selbstverständnis wechselt. Es ist wie bei Eltern, die meist die Entwicklungen ihrer Kinder durch den engen Kontakt gar nicht bewusst wahrnehmen und erstaunt sind, dass eine selten zu Besuch kommende Tante fröhlich bemerkt, dass ‚der Junge so groß geworden ist‘.
So ging es mir mit der Zeit: Sie kam mir nach jedem „Zurück“ verändert vor und ich musste täglich die Entwicklungen eines ganzen Jahres verkraften. Krisen, Ängste, wissenschaftliche Errungenschaften, Preise, Verkehrsmittel oder auch nur ein Medienereignis haben weitaus größeren Einfluss auf die Gesellschaft, als wir denken.
Ich torkelte durch die Jahrzehnte und bemühte mich angstvoll, nicht in ein historisches Fettnäpfchen zu treten. Natürlich begegnete ich auch Prägungen, die wenig später wieder verschwunden waren. Andere dagegen standen in einem kontinuierlichen Wandel. Die Religiosität etwa nahm stetig zu. Ich stellte überrascht, aber nur wenig verwundert fest, wie selbstverständlich es für die Menschen der vergangenen Jahrhunderte war, in ihren Tagesablauf, in ihr Denken und ihre Sprache die Allgegenwart Gottes einzubauen. Und wie sehr diese Einbeziehung überirdischer Sphären ihnen gut tat und ihr Leben aufwertete.
Zu dieser Zeit begann ich auch zu überlegen, ob meine Reise einen spirituellen Hintergrund haben könnte, verwarf den Gedanken aber bald wieder. Ich will nicht an einen personifizierten Gott glauben, der Menschen in eine solch verfluchte Existenz stürzt wie die, die ich ertragen muss. Heute aber denke ich kaum mehr darüber nach, warum mein Leben so verläuft. Ich habe genug damit zu tun, den Anschluss an die Zeit nicht zu verlieren. Das also ist heute mein Leben: arbeiten, reden und mich anpassen.“
Van Dyck bekreuzigte sich. Ich glaube, er wollte den Gestus vor mir verbergen, aber seine Bewegungen waren eindeutig. Mit fast gehauchter Stimme fragte er: „Und was willst du jetzt in London?“
Ich setzte mich auf den kalten Steinfußboden, umschlang meine Beine mit den Armen und schaute zu dem Künstler auf. „Ich bin nicht hier, weil ich etwas will, sondern weil ich etwas nicht will. Jetzt, wo ich das sage, spüre ich selbst, wie feige das klingt. Ist das nicht Schrecken erregend? Aber ich sagte ja, dass ich ein Meister im Verdrängen bin! Wer nicht weiß, was er will, fängt irgendwann an, gegen alles zu sein.
Ich weiß überhaupt nur noch, was ich nicht will. Wenn ich erklären sollte, was ich will, dann bliebe mein Mund geschlossen. Das bedrückt mich. Denn können wir überhaupt vorankommen, solange wir nur negative und keine positiven Ziele haben? Ich bin hier, weil ich den Glaubenskrieg nicht mag, weil er unberechenbar ist und die Menschen verschlingt wie ein Ameisenbär die Ameisen. Und doch sehne ich mich danach, endlich wieder zu wissen, was ich will, endlich wieder für etwas zu sein!“
Van Dyck nahm eine Stoffbahn und legte sie über die Staffelei. Das Kunstwerk verschwand wie unter einer Schneedecke.
Der Künstler blickte mich an. „Beschreibe mir das Bild!“
Die Kerzen warfen flackernde Schatten auf die weiße Fläche und verwandelten sie in ein wogendes Meer.
„Das habe ich doch schon getan, Sir!“
Der Maler trat einen Schritt auf mich zu. „Das eine Mal reicht nicht. Wenn etwas große Kunst ist, dann kannst du es beliebig oft betrachten, es wird dir immer etwas Neues erzählen. Manchmal erkennt man erst nach langer Zeit, worin sein Geheimnis besteht, und doch hättest du dieses gewisse Etwas nicht entdeckt, wenn du nicht schon vorher lange mit fragenden Augen darauf geschaut hättest. Jeder Blick sorgt dafür, dass etwas von der Kunst in dir bleibt. Und du musst reif werden zu sehen. Ob etwas ein Kunstwerk darstellt oder nicht, bestimmst du. Nur wenn du in der Lage bist, es zu sehen und zu verstehen, kann es seine Schönheit preisgeben. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.
Pass auf: Es ist wie mit Noten. Ein Mensch, der kein Instrument spielt, sieht nur einen Haufen seltsamer Kleckse auf einem Blatt Papier. Ein guter Musiker aber sieht nicht nur die Noten, für ihn sind die kleinen Flecken auf den Linien Botschafter einer herrlichen Welt, er hört jeden Ton, der dort notiert ist. In ihm werden die dunklen Punkte zu hellen Klängen, die die Welt zum Schwingen bringen. Und je geübter er ist, desto klarer erlebt er das Orchester mit all seinen Nuancen.
Das Gleiche gilt für dieses Bild: Im Augenblick hast du davon nur eine Vorstellung. Und weil du kein Maler bist, müsstest du es viele hundert Male betrachten, ehe du es wirklich sehen, geschweige denn nachmalen könntest. Gut, du weißt, dass darauf drei Männer und ein Pferd zu sehen sind, aber ich wette, du könntest nicht einmal sagen, ob König Charles an seinem Schultergurt ein Taschentuch oder einen Handschuh trägt. Nimm dir Zeit und lerne zu sehen.“
„Warum?“
Er hob den Kopf, sichtlich getroffen. „Jetzt enttäuschst du mich. Warum! Weil … weil du ein Kunstwerk bist.“
Ich verstand ihn nicht. „Ach!“
Einen Moment wirkte der Maler so, als wolle er mich nun verabschieden, dann aber sagte er: „Weißt du, warum die Menschen so gerne von mir porträtiert werden? Weil ich in den Gesichtern das sehe, was sie zu etwas Besonderem macht. Jeder Künstler tut das, aber mir ist dieser Aspekt wichtiger als alle anderen. Einige meiner Kritiker behaupten, ich könne keine Menschen erfinden, ich bräuchte immer Vorbilder. Ich