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Gefundenes Fressen. Stephan Hähnel
Читать онлайн.Название Gefundenes Fressen
Год выпуска 0
isbn 9783955522063
Автор произведения Stephan Hähnel
Жанр Зарубежные детективы
Издательство Автор
Gegen 22 Uhr beendete Morgenstern seinen Bericht. Wie immer zu Beginn neuer Ermittlungen hatte er ausführlich alle in die Wege geleiteten Maßnahmen dokumentiert. Der Ordner war angelegt, alle Formblätter waren ausgefüllt und die ersten Erkenntnisse notiert. Viel gab es noch nicht. Das würde sich in den nächsten Tagen ändern. Das Räderwerk hatte begonnen, sich in Bewegung zu setzen. Vorerst bestand der Kreis der ermittelnden Beamten aus wenigen Kollegen, auf die Morgenstern sich verlassen konnte. Die einzige Ausnahme war Linda Mörike, die er schwer einschätzen konnte, geschweige denn, dass sie ihm sonderlich sympathisch erschien.
Missmutig schaute er auf die Uhr, dann auf ihre Personalakte. Der Tag war sowieso hinüber.
Neben den persönlichen Daten fanden sich ein paar Zeugnisse, die alle durchweg beeindruckend waren, ihn aber nicht interessierten. Praktische Erfahrungen besaß sie nicht, sah man von einem vierteljährigen Praktikum bei den Kollegen des Rauschgiftdezernats ab. Auch die Beurteilung dieser Dienststelle war überaus positiv. Grundsätzlich beachtete Morgenstern solche Einschätzungen wenig. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass erst die Praxis darüber entschied, ob jemand für den Beruf geeignet war. Zu oft hatte er erlebt, dass gutausgebildete Berufsanfänger dem Druck nicht standhielten.
Linda Mörike stammte aus Niederkrüchten, einem kleinen Ort am Niederrhein nahe der holländischen Grenze. Mönchengladbach lag nicht weit entfernt.
Morgenstern ließ die Akte im obersten Schubfach verschwinden und schaute sich noch einmal um. Als das Telefon klingelte, erschrak er heftig, weniger wegen des lauten Tons als wegen der Tatsache, dass ihn um diese Zeit überhaupt noch jemand anrief. Er erkannte die Nummer auf dem Display und überlegte, ob er überhaupt rangehen sollte. Nach dem dritten Klingeln nahm er den Hörer ab.
»Morgenstern. Mordkommission.«
»Lucatelo. Sigrid Lucatelo. Guten Abend, Herr Kommissar!«
Er verdrehte genervt die Augen. Unter allen Journalisten, die ihm suspekt waren, nahm Lucatelo die unangefochtene Führungsposition ein. »Was wollen Sie?«
»Ich schreibe einen Artikel über den toten Jungen im Mauerpark. Kurze Frage: Können Sie bestätigen, dass er Opfer eines Hundehassers geworden ist?«
Als Morgenstern kurz vor Mitternacht seine Haustür öffnete, war noch viel Bewegung auf der Stargarder Straße. Studenten, Lebenshungrige und Touristen nutzten die warmen Nachtstunden und saßen vor den Lokalen. In einem Restaurant gegenüber der Gethsemanekirche kreischten einige Frauen vor Begeisterung über einen gelungenen Witz. Musik war zu hören. Ein paar Betrunkene ernannten kurzerhand die Straße zur Fußgängerzone und verlangten den Autofahrern einige Geduld ab. Die jungen Männer grölten laut, während sie sich schwankend in Richtung Bahnhof Schönhauser Allee bewegten. Ein alter Mann, dessen Kleidung seinen verwahrlosten Zustand verriet, und sein ebenfalls in die Jahre gekommener Hund schlurften am Zaun der Gethsemanekirche entlang. Vorsichtig trug der Alte einen zugeknoteten Plastikbeutel. Er war einer der wenigen, die den Haufen seines Vierbeiners wie selbstverständlich entsorgten. Bevor er die Tüte wegwarf, stocherte er mit einem Stock in dem Müllbehälter herum, in der Hoffnung, eine Pfandflasche zu finden. Enttäuscht ging er weiter.
Es war ein typischer Abend im Kiez, und wenn Morgenstern nicht so müde gewesen wäre, hätte er noch ein Bier in seiner Lieblingskneipe »Eselsbrücke« getrunken.
Die Wohnungstür fand er unverschlossen vor. Anna lag zusammengerollt in seinem Bett und atmete leise. Er setzte sich neben sie und genoss den Duft, der ihren Körper so anziehend machte. Vorsichtig strich er ihre Haare zur Seite und küsste sie auf den Nacken. Liebevoll ließ er die Hand über ihren Rücken gleiten. Sie rührte sich nicht. Er würde sie nicht wecken. Auch wenn es warm war, deckte er sie sorgfältig zu, um sich dann langsam zu erheben.
»Wehe!«, flüsterte sie. »Wage nicht wegzugehen! Mir gehören noch elf Minuten. Noch ist Sonntag. Mein Sonntag. Also weiterstreicheln! Etwas weiter links unter dem Schulterblatt, und ein bisschen kräftiger, wenn ich bitten darf.«
Morgenstern kam sich hochgradig albern vor. Er saß nur mit Socken bekleidet im Bett. Seine Klamotten vereinten sich zu einem wirren Haufen auf dem Boden. Anna hatte sie dort achtlos hingeworfen. Kissen und Decken bildeten ein Gebirge am Fußende des Bettes. Das Einzige, was ihm geblieben war, um sein Gemächt zu bedecken, wie Anna kichernd seine Männlichkeit zu benennen pflegte, war ein prallgefülltes Kirschkernkissen. Sie hatte es ihm nach ihrem ersten gemeinsamen Wochenende geschenkt, in der festen Überzeugung, dass das ergonomische Gesundheitsvehikel half, sein nächtliches Schnarchen zu minimieren.
Anna hatte sich in den verbleibenden Sonntagsminuten nicht mit dem Streicheln der Rückenpartie zufriedengegeben. Morgenstern hatte es nicht gewagt, ein weiteres »Wehe!« zu provozieren, und sich trotz Müdigkeit um erheblich mehr als ihren Rücken gekümmert, und zwar ausgiebig. Inzwischen war seine Erschöpfung verflogen. Die Befürchtung, völlig übermüdet im Büro zu erscheinen, schob er beiseite. Annas Behauptung, dass er sich lediglich magere elf Minuten bemüht habe, glaubte er natürlich nicht. Da jedoch weder Armbanduhr noch Wecker verlässlich Auskunft geben konnten, denn beide Zeugen hatte sie vorsichtshalber mitgenommen, als sie vor ein paar Minuten in die Küche gegangen war, musste er den Beweis schuldig bleiben.
Das Klappern von Geschirr überzeugte Morgenstern, dass Anna nach dem angeblich so kurzen sinnlichen Scharmützel doch der Stärkung bedurfte. Sein männlicher Stolz war wiederhergestellt.
Tatsächlich brachte sie einen Teller mit, auf dem unterschiedlichste Salatblätter, zwei Sorten Tomaten, Scheiben einer ungeschälten Gurke, Sojasprossen und geviertelte Radieschen in einem Nest von Karottenraspeln angerichtet waren. Das Ganze hatte sie in Joghurtsoße ertränkt und mit gerösteten Pinienkernen verziert. Obenauf thronten scharf gewürzte Schafskäsewürfel und zwei Blättchen Basilikum. Anna stellte das Gesundheitsmonstrum auf den Nachtschrank, wechselte das Kirschkernkissen mit der Bettdecke, rückte an ihn heran und begann mit einem Heißhunger zu speisen, der Morgenstern immer wieder erstaunte.
»Mir ist so, als hättest du noch vor kurzem gepredigt, Salat am Abend schüre das Verdauungsfeuer unnötig.«
Anna verdrehte die Augen und ließ es sich schmecken. »Seit wann interessierst du dich überhaupt für ayurvedische Küche?«, murmelte sie mit vollem Mund. »Willst du mal kosten?«
»Ich hatte heute schon Leberwurst auf Grünkernpaste. Noch mehr Gesundes verträgt mein geplagter Körper nicht, fürchte ich.«
Sie kicherte. »Du siehst lächerlich aus mit den Socken.«
Morgenstern bewegte die Zehen und musterte seine Füße mit kritischem Blick. »Findest du? Ich dachte, du stehst total auf graumeliert.«
Anna kommentierte das nicht, stellte stattdessen den Teller auf den Nachttisch und küsste seine Schläfen, die er selbst als rauhaardackelfarben beschrieb.
»Du siehst müde aus. Habt ihr schon eine Spur?«
»Sicher scheint nur, dass der Junge an irgendeinem Gift gestorben ist. Morgen wissen wir mehr.«
Anna schwieg eine Weile, und Morgenstern spürte, wie sie noch ein bisschen dichter an ihn heranrückte.
Schon in der ersten gemeinsamen Nacht hatte sie darauf bestanden, dass er keine Geheimnisse vor ihr haben dürfe. Auch nicht, was die Arbeit anging. Geheimnisse führten zu Missverständnissen, Missverständnisse zu Missverstehen. Beide wussten das. Ihre Ehen waren daran gescheitert. Für Morgenstern und Anna war es die zweite Chance. Dennoch erzählte er nicht alles über seine Ermittlungen. Details waren tabu. Und Anna verstand durchaus, dass er ihre gemeinsame Zeit nicht durch die Schatten von Mördern, Vergewaltigern oder Pädophilen verdunkeln lassen wollte.
»Ich könnte das nicht. Ich würde es nicht übers Herz bringen, Eltern den Tod ihres Kindes mitzuteilen. Wie schaffst du das?«
Morgenstern schwieg. Anna schaltete das Licht aus und drehte sich