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Gedanken gekommen, die Nachtschwester in Anspruch zu nehmen oder überhaupt jemanden von sich aus zu rufen.

      Er galt bei dem Pflegepersonal zunächst als ein sehr angenehmer Patient. Er verzog keine Miene, wenn er des Morgens aus dem Schlaf geholt wurde, den er gerade erst gefunden hatte. Er sagte nichts, wenn er durch Röntgenaufnahmen, Bestrahlungen, Massagen oder das Betten stärkere Schmerzen haben musste. Er versuchte stets mit Energie, diejenigen Bewegungen auszuführen, die ihm vorgeschrieben wurden, und unternahm keine anderen.

      Er war, alles in allem, eine gehorsame und stille Puppe, und wenn dies auch von jedermann als annehmlich empfunden wurde, so wirkte es auf die Länge der Zeit und in seiner unverbrüchlichen Folgerichtigkeit allmählich doch kalt und unzugänglich. Assistenzärzte, Masseur und Schwestern versuchten nun unwillkürlich, aus Joe King irgendeine menschliche Anteilnahme, irgendeine ungleichmäßige Reaktion herauszulocken dadurch, dass sie freundlicher oder unfreundlicher als gewöhnlich wurden, und als sie hiermit keinen Erfolg hatten, zogen sie sich auf eine ebenfalls sehr kühle, wenn auch lächelnde Korrektheit zurück und sagten sowohl zu sich selbst als auch gelegentlich untereinander: »Er ist eben ein Red Indian – eine Rothaut.«

      So kam es, dass Joe King aus seiner Geduld auf die Dauer keinen Vorteil zog, sondern dass man ihm diese mehr und mehr als eine Art Hochmut oder eine Art Primitivität anrechnete, jedenfalls als einen Nonkonformismus in Bezug auf menschliches Verhalten überhaupt und insofern als eigenbrötlerisch, ja anstößig.

      Die einzige, die behauptete, dass sie diesen Patienten verstehe, war die rotblonde, stupsnasige, sommersprossige Schwester Kay, die von Natur überwältigend naiv lächeln konnte, Indianer für Menschen wie andere auch nahm und einem anerkannt aufgeschlossenen Verhalten von Seiten des unzugänglichen Patienten begegnete.

      Joe war sich im übrigen der Wirkung seines Benehmens mit allen positiven und negativen Folgen durchaus bewusst. Es schien ihm der einzige Weg, sich die andern vom Leibe zu halten, selbst wenn sie ihn anfassten, und insofern unvermeidlich, obgleich es ihn einen nicht geringen Aufwand an Nervenkraft kostete. Er musste sich von sich selbst abhängen und sich selbst tatsächlich wie einen anderen beobachten. Er musste dahin gelangen, dass ihm Schmerzen, Abhängigkeit, Eintönigkeit und Verlassenheit als etwas Fremdes, von außen zu Studierendes erschienen, sonst wäre ihm vor allem die Abhängigkeit unerträglich geworden. Er musste auch die anderen Patienten wie Lebewesen ansehen, die ihn nur in der Weise angingen wie ein Studienobjekt einen neugierigen Forscher.

      Das letzte war das relativ Leichteste für ihn. Die Belegung der Betten wechselte. Nicht einer hatte ein so langes Krankenlager durchzumachen wie Joe King. Die meisten Patienten, die er erlebte, erholten sich von einem Unfall, unter ihnen wiederum die Mehrzahl von einem Autounfall. Sie waren vermögende Geschäftsleute, gut verdienende Rechtsanwälte oder Ärzte oder Söhne reicher Väter. Sie kamen aus einer Welt, in der Joe King nie gelebt hatte, weder als Reservationsindianer noch als Gangster, noch als Häftling. Sie sprachen meist von Dingen, die Joe King gleichgültig ließen, von Wagen, großen Sportveranstaltungen, Frauen, Reisen, von ihrem Unfall, von ihren Leiden.

      Es gab wenige Ausnahmen.

      Einmal hatte Joe als Bettnachbarn einen Studenten. Dem jungen Menschen war das Gesicht zerbissen und ein Ohr abgebissen worden. Er gehörte nicht in eine vorwiegend orthopädische Klinik, aber der ihn behandelnde Chirurg hatte ihn neben anderen seiner Patienten zu Dr. Miller gelegt. Es war der zweite Fall dieser Art. Es sickerte durch, dass er das Opfer eines Sexualverbrechers geworden war. Die Polizei kam dem Unhold nicht auf die Spur, da die Geschädigten keine Anzeige erstatteten. Der junge Bursche fand sich mit seinem Erlebnis, wie Joe spürte, innerlich nicht zurecht, konnte nicht davon reden wie die anderen Patienten über ihre Unfälle, war tief bedrückt, als Außenseiter der Gesellschaft zu gelten, witterte in dem Indianer insofern einen Leidensgenossen und suchte nach Gesprächsstoffen, die vom Persönlichen scheinbar entfernt, objektiviert waren. In diesem letzten Punkt traf er sich mit Joe, zu dessen zugespitzter Männlichkeit er sich überhaupt hingezogen fühlte, während Joe von den weiblichen Neigungen seines Mitpatienten bis zu einem unüberwindlichen körperlichen Ekel abgestoßen wurde. Joes Bettnachbar bemühte sich in seinem Studium um die Geheimnisse der Soziologie und behauptete zum Beispiel, dass es keinerlei prinzipielle Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten der Bevölkerung gebe, insbesondere keinen grundsätzlichen Unterschied des Glücksgefühls, da sich dieses nicht auf den Lebensinhalt bezöge, sondern auf die Lebenserwartungen, die aus dem jeweiligen Milieu heraus wüchsen. Der junge Mensch fand mit seinen psychologischen Spekulationen bei den anderen Insassen des Zimmers wenig Echo und richtete das Wort immer wieder an Joe, auch dann, wenn er dessen eigene Gedankengänge ganz offensichtlich störte.

      »Was erwarten Sie vom Leben, Mr King?«

      »Was nennen Sie Leben, was ist das?«

      »Ein biologischer Prozess.«

      »Was ist das, biologisch?«

      »Lebensgesetzlich.«

      »Was ist das Leben?«

      »Wie meinen Sie diese Frage, Mr King?«

      »Wo ist das Leben, von dem ich etwas erwarten soll? Wo kann ich es finden, wie kann ich es ansprechen, hat es überhaupt Macht über mich? Wodurch ist es zu dem zu bewegen, was ich will?«

      »Sie selbst sind ein Stück davon.«

      »Sie wollen also wissen, was ich von mir selbst erwarte?«

      »Ja, bitte, beantworten Sie mir erst einmal diese Frage.«

      »Nun, ich erwarte von mir, wieder bewegungsfähig zu werden.«

      »Wozu?«

      »Wozu? Um das Bett zu verlassen.«

      »Das ist doch kein Lebenszweck.«

      »Nein? Was ist Ihr Lebenszweck?«

      »Ich wünsche die Lebenstendenzen so zu analysieren, dass ich den Menschen wissenschaftlich zu seinem Glück lenken kann. Sie sind zum Beispiel unglücklich.«

      »Ich? Wie kommen Sie denn darauf?«

      »Sie sind doch nicht glücklich.«

      »Aber selbstverständlich.«

      »Wieso?«

      »Ich habe mir immer gewünscht, nicht arbeiten zu müssen. Jetzt ist mein Wunsch erfüllt.«

      »Ein verrückter Wunsch, typisch indianisch. Aber Sie bestätigen meine Theorie. Ihre Lebenserwartung ist erfüllt; daran gemessen, sind Sie glücklich, obgleich Sie gelähmt sind. Ausgezeichnet. Das ist ausgezeichnet.«

      Der Student-Patient, der die fünfte Operation hinter sich gebracht hatte, um wieder menschlich auszusehen, holte sein wissenschaftliches Notizbuch hervor und machte eine Eintragung.

      »Sie müssen sich nur einreden«, sagte Joe, »dass Sie zerschnitten aussehen wollen, dann sind Sie auch glücklich.«

      »Das kann ich mir doch nicht vormachen.«

      »Warum nicht? Es hat Leute genug gegeben, die auf ihre Narben stolz waren.«

      »Sind Sie es auf die Ihren?«

      »Ja. Natürlich.«

      »Sie sind glücklich, weil Ihre Brust einmal zerfetzt war und irgendjemand irgendwann versucht hat, Ihnen den Schädel einzuschlagen?«

      »Ja, ich bin stolz.«

      »Phantastisch. Ich möchte Ihre indianische Einbildungskraft haben. Leider fehlt sie mir. Die Lebenserwartungen sind von Erziehung und Milieu abhängig.«

      »Da ich in ein verdammt unfruchtbares Stück Prärie eingesperrt und hineingeboren bin, was soll ich überhaupt anderes machen als meine Erwartungen dem anpassen?«

      »Wieso eingesperrt?«

      »Reservation.«

      »Ach, Sie sind Reservationsindianer?«

      »Ja.«

      »Hätte ich nicht gedacht. Aber Sie können das Gefängnis verlassen, wenn Sie wollen.«

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