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noch nicht angefangen zu vermodern. In der Luft schwebte ein Raubvogel, der den Wirrwarr unter sich beobachtete, vielleicht hoffte er auf eine mühelose Mahlzeit – ein verendetes Kleintier, das ein Opfer der umstürzenden Bäume geworden war.

      Während Manfred und Iris Marder dieses Chaos betrachteten, erfüllte ein leises Geräusch die Luft, ein Knistern, als ob sich Elektrizität entlud. Der Ton wurde eindringlicher, aggressiver, ging in ein Krachen über. Er kam vom Rand des zerstörten Gebietes, dort wo der Wald begann, der überlebt hatte. Die Krone einer Fichte neigte sich zur Seite, brach ab und fiel auf den Waldboden. Kyrill hatte den Baum offensichtlich beschädigt, das Werk der Zerstörung aber nicht vollenden können. Das hatte die Natur nun nachgeholt. Marder erschauderte, es hätte ebenso der Baum sein können, in dessen |37|Nähe sie gerade standen. Sie gingen wenige hundert Meter bergauf, dort war die Welt wieder in Ordnung, der Wald friedlich und voller Hoffnung, wie es zu Beginn des Frühlings in jedem Jahr war – so als hätte es den Orkan nie gegeben. Kyrill hatte trotz seiner Wut nur Schneisen von mehreren hundert Metern Breite durch den Deister geschlagen, dort seinen Zorn und Furor ausgetobt und den Rest der Hügel weitgehend verschont.

      Auf dem Weg in die Stadt zurück kam ihnen eine riesige Holzerntemaschine vom Typ »Harvester« entgegen. Die Menschen waren dabei, wieder Ordnung in den deutschen Wald zu bringen.

      |37|9.

      »Bei dem schönen Sonnenschein habe ich den Frühstückstisch im Wintergarten gedeckt und die Zeitung gleich dazugelegt«, begrüßte Frau Thann ihre Gäste, als sie die Treppe herunterkamen.

      Marder hielt den ersten Kaffee des Tages in der rechten Hand, mit der linken blätterte er in der Zeitung und suchte die neuesten Informationen über das blutige Messer am Waldrand. Auf Seite drei wurde er fündig.

      »Es scheint etwas Neues zu geben«, sagte er. «Es ist ein ziemlich langer Bericht. Ich glaube, die lokale Presse ist glücklich, wenn vor Ort etwas Aufregendes passiert, selbst wenn es etwas Schreckliches ist – die Leute lesen dann die Zeitung mit mehr Interesse als gewöhnlich.«

      |38|»Lies laut«, sagte Iris. »Ich schmiere dir inzwischen ein Brötchen. Welche Marmelade willst du?«

      »Das weißt du doch. Ich nehme immer die bittere Orangenmarmelade, wenn es welche gibt.«

      Er zeigte mit dem Finger energisch auf die Schale mit seiner Lieblingskonfitüre.

      »Ich dachte, du wolltest vielleicht mal was Neues probieren, jetzt wo wir Ferien machen. Du könntest manchmal ein bisschen abenteuerlustiger beim Essen sein.«

      »Ich weiß, du meinst es gut, mein Schatz. Aber ich will beim Frühstück keine Abenteuer erleben. Ich will einfach nur bittere Orangenmarmelade. Soll ich nun vorlesen oder nicht?«

      »Entschuldigung. Ich wollte dir deine Marmelade nicht vermiesen. Ich weiß ja, wie sehr du daran hängst. Ich bin jetzt ganz Ohr. Lies bitte vor.«

      Marder las:

       »Das blutige Messer, das vorgestern ein Jogger im Wald am Rand eines Parkplatzes in der Nähe der Freilicht-Bühne gefunden hat, gibt der Polizei weiterhin Rätsel auf.

       Es ist inzwischen bestätigt, dass es sich bei dem Blut um menschliches Blut handelt, wahrscheinlich Blut von einer Frau. Die Polizei vermutet, dass es nicht aus einer zufälligen kleinen Schnittwunde stammt – dafür ist die ursprüngliche Menge des Blutes an dem Messer und dem Baumstamm dem Anschein nach zu groß gewesen. Das Messer hat einen schwarzen Plastikgriff, es ist ein Modell, wie es wahrscheinlich in vielen Haushalten vorhanden ist.

      Die Spurenexperten haben bisher keine Fingerabdrücke am Griff des Messers finden können. Das gibt der Kriminalpolizei |39|besonderen Anlass zur Sorge. Möglicherweise hat der Besitzer das Messer verloren, ohne es zu bemerken, und die Fingerabdrücke sind durch die Witterung beseitigt worden. Es ist jedoch nicht völlig auszuschließen, dass eine Person das Messer dort absichtlich abgelegt hat, nachdem sie eventuelle Fingerabdrücke am Griff und an der Klinge abgewischt hat. Es stellt sich die Frage, warum. Wenn es sich um ein Verbrechen handelt, dann wäre die Beseitigung der Fingerabdrücke durch den Täter nur logisch.

       Weitere forensische Untersuchungen des Blutes, die Aufschluss darüber geben könnten, wie lange das Messer an der Fundstelle gelegen hat, sind noch nicht abgeschlossen. Es ist durchaus möglich, dass es sich seit längerem, eventuell circa eine Woche, dort befunden hat. Die Polizei plant, den Bereich heute noch einmal großflächig mit Hunden abzusuchen, da bisher in der unmittelbaren Nähe des Parkplatzes nichts Auffälliges entdeckt wurde. Die Hoffnung, Fuß- oder Reifenspuren zu finden, die im Zusammenhang mit einem möglichen Verbrechen stehen könnten, ist gering, da der Boden in den letzten Tagen mit Schnee bedeckt war, der inzwischen vollständig geschmolzen ist.

       Die Polizei bittet alle Leser, die das auf dem Foto abgebildete Messer wiederzuerkennen glauben, sich zu melden, auch wenn es sich dabei um ein handelsübliches Modell handelt. Alle Informationen werden selbstverständlich vertraulich behandelt. Die Polizei bittet die Mitbürger, die in der letzten Zeit im Wald um die Freilichtbühne unterwegs waren und denen etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, sie zu kontaktieren.

       Die nächste Pressekonferenz ist für morgen Vormittag vorgesehen. Wir werden Sie weiterhin über alles Wichtige zu diesem Fall unterrichten.«

      |40|10.

      »Gute Nacht, Schatz. Schlaf gut. Ich komme morgen früh wieder, um nach dir zu schauen, bis dahin geht es dir bestimmt besser.«

      Marder richtete sich auf eine weitere Nacht im Krankenhaus ein. Vor drei Nächten hatte ihn seine Frau um zwei Uhr morgens wegen einer Nierensteinattacke in die Notfall-Aufnahme der Klinik in Gehrden eingeliefert. Nierensteine waren für ihn nichts Neues, nur die heimtückische Geschwindigkeit, mit der ihn der Schmerz dieses Mal überfallen hatte, war unvorhersehbar gewesen. Am Abend, kurz vor dem Schlafengehen, hatte er sich als Hinweis gemeldet, dass es ein Problem in seinem Unterleib gab. Eine Nacht gut schlafen, und die Sache erledigt sich von allein, hatte er sich Mut zugesprochen und ließ Iris nicht in seine Schmerzen ein. Sie schlummerte neben ihm und ahnte nichts von seinem Kampf gegen die Qualen, den er zunehmend verlor. Kurz nach Mitternacht ging es nicht mehr. Er weckte seine Frau, er müsse ins Krankenhaus, er sei sicher, er habe einen eingeklemmten Nierenstein, der ihm großes Unbehagen verursache. Iris war sofort hellwach, sie wusste, dass ihr Mann aus schmerzhafter Erfahrung sprach. Wenn er sie weckte, war es nicht zum Spaß – sie kannte ihn als einen Mann, der Schmerzen lieber verkniff, als andere damit zu belästigen.

      Ob sie den Notarzt rufen solle, oder ob er direkt ins Krankenhaus wolle, fragte sie besorgt.

      »Wir fahren gleich zur Notfallaufnahme ins Krankenhaus. Wer weiß, wie lange es dauert, bis ein Notarzt kommt, und |41|der wird mich sowieso ins Krankenhaus einweisen. Wenn ein Nierenstein festsitzt, kann eine Stunde unglaublich lang sein.«

      Er versuchte zu lächeln. Es misslang.

      »Ich weiß, wo das Krankenhaus in Gehrden ist, wir brauchen nur eine knappe Viertelstunde. So lange halte ich es noch aus.«

      Iris hatte ähnliche Situationen früher bereits durchgemacht. Sie geriet daher nicht in Panik wie bei seinem ersten Stein, auch wenn sie um ihren Mann besorgt war. Bisher hatten diese Attacken stets gut geendet, und sie wusste, dass sie im Moment nichts tun konnte, außer ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen und ihm auf dem Weg dorthin liebevollen Trost zuzusprechen.

      Der wachhabende Arzt in der Notfallstation war ein junger Mann, sicherlich ein Assistenzarzt, er machte einen kompetenten und gefassten Eindruck, auch wenn er erst den Schlaf vertreiben musste, dem er sich gerade hingeben wollte. Marder weihte ihn in seinen Verdacht über den festsitzenden Nierenstein ein. Ultraschall und Röntgenaufnahmen bestätigten diese Selbstdiagnose.

      »Ich werde Ihnen eine schmerzstillende Spritze geben, damit Sie erst einmal schlafen können. Morgen früh machen wir eine gründliche Untersuchung. Wenn sich Ihre und meine Diagnose als richtig herausstellt, und daran habe ich keinen Zweifel, werden wir den Stein aus der Harnröhre in die Niere zurückschieben

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