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einem Mythos möchte Frédéric Plassard sofort aufräumen. Die Archäologen glaubten anfangs, dass die eiszeitlichen Künstler im Laufe der Jahrtausende immer geschickter wurden. Die perfekten Proportionen und Perspektiven der Tierdarstellungen in Font de Gaume sind zum Beispiel sehr viel ausgereifter als die unförmigeren Pferde in der ein paar Tausend Jahre älteren Höhle Peche Merle.

      Doch dann wurde in den 1990er-Jahren die weiter östlich in Südfrankreich gelegene Höhle Chauvet entdeckt. Die Kunstwerke dort sind absolut einzigartig, ein wahrer Schatz aus mehrfarbigen und geschickt dargestellten Tieren. Diese Bilder sind womöglich schon vor 32.000 Jahren während der Kultur des Aurignacien begonnen worden.

      Wir Menschen haben also spätestens seit diesem Zeitpunkt das Potenzial zur Erschaffung bildender Kunst gehabt. Vergessen wir auch nicht die Elfenbeinflöten und die kleinen Statuetten von der Schwäbischen Alb, deren älteste über 40.000 Jahre alt sind. Seit sich moderne Menschen in Europa angesiedelt haben, gibt es sowohl meisterhafte Künstler als auch Amateure.

      Während wir vor dem Höhleneingang sitzen, diskutieren wir auch die Theorien des französischen Archäologen Jean Clottes und seines südafrikanischen Kollegen David Lewis-Williams. Die beiden scheinen hier in der Gegend den Status der Chefideologen innezuhaben. Vor allem die Bücher von Jean Clottes, sowohl die populärwissenschaftlichen als auch die akademischeren, sind in allen Geschäften und Museumsläden vorrätig.

      Ihre Theorien lassen sich mit den Worten des Guides in der Pferdehöhle Les Combarelles kurz so zusammenfassen: Indem sie die Bilder in Höhlen erschufen, holten sich die Schamanen spirituelle Kräfte.

      Für Frédéric Plassard ist die Schamanenhypothese stimmig, wenn auch sehr schwer zu beweisen. Er mahnt zur Vorsicht. In einem Zeitraum von über 30.000 Jahren und in einem Gebiet, das sich von der Atlantikküste bis nach Sibirien erstreckte, könnten durchaus verschiedene Kräfte am Werk gewesen sein.

      Jean Clottes und David Lewis-Williams gründen ihre Argumentation auf drei Säulen.

      Die erste ist ihr umfassendes Wissen über die Bilder. Das ist unumstritten. Jean Clottes hat zum Beispiel die Untersuchungen in der Chauvethöhle mit geleitet.

      Die zweite Säule wird von den meisten Archäologen und Anthropologen leidlich akzeptiert. Clottes und Lewis-Williams ziehen Parallelen zwischen den eiszeitlichen Künstlern Europas und den traditionellen Jäger- und Sammlervölkern des 19. und 20. Jahrhunderts. In ihren Büchern gehen sie unter anderem von den Schilderungen der sibirischen Nomaden in der anthropologischen Literatur aus sowie von eigenen Besuchen bei Indianern in Kalifornien und Buschmännern in Südafrika. Eines der wichtigsten Dokumente enthält über zwölftausend Seiten Interviews mit Buschmännern, die der deutsche Linguist Wilhelm Bleek gegen Ende des 19. Jahrhunderts und während der folgenden Jahrzehnte gemeinsam mit seiner Schwägerin Lucy Lloyd und seiner Tochter Dorothea aufgezeichnet hat.

      Viele der Parallelen, die Jean Clottes und David Lewis-Williams beschreiben, sind in der Tat auffällig.

      Im schamanistischen Weltbild ist das Universum gewöhnlich in drei Ebenen unterteilt: in die Erde, wo wir gewöhnlichen Sterblichen uns aufhalten, den Himmel sowie die Unterwelt und/oder die dunklen unterirdischen Wasser. Einige Tiere haben Zugang zum Himmel oder zur Unterwelt. Wasservögel können zum Beispiel alle drei Ebenen erreichen, weil sie sowohl schwimmen als auch fliegen können, und Schlangen können in die Unterwelt kriechen. Diese Tiere können den Schamanen auf ihrer Reise in die Welt der Geister helfen.

      Mithilfe der Höhlen könnten sie sich der Unterwelt und damit den Geistern und den Toten genähert haben.

      David Lewis-Williams beschreibt die Felswände in den Höhlen als Membran – als Grenze zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister. Er glaubt, dass die Künstler die Bilder buchstäblich auf die Wand projiziert sahen und im Großen und Ganzen nur noch ihre inneren Bilder auszumalen brauchten. Sie könnten sich in Trance versetzt haben – durch Schlafentzug, Drogen, rhythmische Musik und wilden Tanz, mithilfe des hohen Gehalts an Kohlendioxid in einigen der Höhlen oder auch nur durch den Mangel an Eindrücken, der durch längeres Alleinsein in einem dunklen Raum entsteht. Sie befanden sich vielleicht nicht in Trance, während sie malten, aber sie gaben Bilder wieder, die sie in der Trance gesehen hatten, meint Lewis-Williams.

      Die dritte Säule der Argumentation von Jean Clottes und Lewis-Williams ist die umstrittenste. Die beiden Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass die frühe Kunst ihren Ursprung nicht nur in den Trancezuständen der Schamanen hatte, sondern vor allem in der besonderen Funktionsweise des menschlichen Gehirns bei Halluzinationen und Psychosen.

      So seien die Zickzackmuster, die auf 70.000 Jahre alten Steinen in der südafrikanischen Höhle Blombos entdeckt wurden, eine Darstellung der Lichtphänomene, die viele Menschen bei einem Migräneanfall sehen. Laut Clottes und Lewis-Williams sind diese Lichtwahrnehmungen eine Form schwacher Halluzinationen. Die Mammuts, Pferde und Bisons in den Höhlenmalereien wären demnach Repräsentationen von schwereren Halluzinationen.

      Ich persönlich stehe dieser Lesart skeptisch gegenüber. In meinen Augen ist gewöhnliche menschliche Kreativität – womöglich durch Trancezustände verstärkt – als Erklärung für die Bilder schon ausreichend.

       DER ERSTE HUND

      EINIGE MEINER VERWANDTEN BLIEBEN IN SPANIEN und Südwestfrankreich. Andere aus der mütterlichen Abstammungslinie zogen weiter nach Süden, über Gibraltar nach Afrika: an die Küsten, in die Berge der Kabylei und bis in den Senegal. Dort trifft man noch heute auf ihre Nachkommen. Das wissen wir dank des Vorkommens von Mitochondrien der Haplogruppe U5b1 in diesen Gegenden. Sie sind zwar selten, aber es gibt sie.

      Wieder andere wanderten stattdessen nordwärts, nachdem die strengste Kälte vorbei war. Sie folgten den Rentieren, die ihre wichtigste Jagdbeute waren.

      Einige zogen entlang des Flusses, den wir heute Rhein nennen, geradewegs nach Norden.

      Vor ungefähr 14 700 Jahren wurde das Klima in Nordeuropa deutlich milder. Bäume wie Birken, Weiden und Espen eroberten die Steppe. In Laubwäldern dieser Art fühlen sich Rentiere nicht wohl, denn dort gibt es für sie im Winter nichts zu fressen. Meine Verwandten im Rheintal waren daher gezwungen, sie rasch durch andere Beutetiere wie Elche, Hirsche und Biber zu ersetzen, was für sie eine große Umstellung bedeutete.

      Zwei meiner Verwandten starben in Höhe der heutigen Stadt Bonn: ein fünfzigjähriger Mann und eine Frau um die Zwanzig. Ihre Begleiter hoben ein Grab aus, betteten sie dicht nebeneinander hinein und bestreuten sie reichlich mit rotem Farbpulver. Als Grabbeigaben schenkten sie den Toten eine feine Haarnadel aus Knochen, ein verziertes Stück Hirschgeweih und einen rot angemalten Hirschzahn.

      Außerdem wurde ihnen ein Hund auf den Weg in das Totenreich mitgegeben. Das war sicherlich ein großes Opfer, das größte, das man bringen konnte.

      Die Grabfunde mit Namen Bonn-Oberkassel sind um die 14 500 Jahre alt und stammen somit aus einer Zeit direkt nach dem Ende der Eiszeitkultur des Magdalénien. Analysen der mitochondrialen DNA der beiden Personen ergaben, dass sie in mütterlicher Linie der Gruppe U5b1 angehörten.

      Das ist die Gruppe, zu der auch ich gehöre. Wir hatten also vor mehreren Jahrtausenden eine gemeinsame Vorfahrin. Sie waren Kinder und Enkel von „Ursula“, genau wie ich.

      Das Interessanteste an Bonn-Oberkassel ist allerdings nicht die Tatsache, dass entfernte Verwandte von mir dort begraben wurden. Der wichtigste Fund ist der Hundeschädel.

      Es ist der älteste Fund eines Hundes, über den bei allen Forschern Einigkeit herrscht. Der Schädel erfüllt alle Anforderungen an einen frühen Hund. Das Aussehen stimmt, die Zeit stimmt, der Ort stimmt und die DNA des Hundes stimmt ebenfalls.

      Die Frage, wann der Wolf zum Hund wurde, war viele Jahrzehnte lang Gegenstand hitziger Debatten. Es geht dabei auch um viel Prestige. Der Hund war unser erstes Haustier und wird bis heute der „beste Freund des Menschen“ genannt.

      Anfangs

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