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Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer
Читать онлайн.Название Die Stadt der Regenfresser
Год выпуска 0
isbn 9783948093297
Автор произведения Thomas Thiemeyer
Серия Die Chroniken der Weltensucher
Издательство Bookwire
»Und da kam dir der Gedanke, mir meine Börse zu klauen.«
Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn. »So offen, wie Sie Ihr Portemonnaie heraushängen lassen, war es nur eine Frage der Zeit, bis Sie jemand bestiehlt«, sagte Oskar und setzte noch einen obendrauf: »Sie haben das regelrecht herausgefordert. Eigentlich bin ich derjenige, der sich beschweren müsste. Sie haben mich in Versuchung geführt. Geradezu kriminell, so ein Verhalten.«
Der Forscher lachte. »Du kannst mich ja anzeigen. Ich frage mich, wem der Richter wohl glauben würde. Aber jetzt mal im Ernst: Was ist mit deinen Eltern? Was machen sie und wo leben sie?«
Oskars Augen wurden schmal. »Meine Eltern sind tot«, stieß er hervor. »Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war, und meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war wohl ein ziemlicher Rumtreiber. Vielleicht ein Seemann oder so.«
»Das tut mir leid«, sagte der Forscher mit ernstem Gesicht. »Dann warst du sicher schon sehr früh auf dich allein gestellt.«
Oskar winkte ab. »Die meiste Zeit war ich im Heim. Irgendwann wurde es mir zu dumm. Ich bin dort weg und habe mich selbstständig gemacht. Straßenkehrer, Botengänge, Aushilfsdienste. Was man halt so macht, wenn man nicht weiß, was man am nächsten Tag fressen soll. Aber das Gefühl kennen Sie vermutlich nicht.«
»Besser, als du denkst«, erwiderte der Forscher knapp, ohne näher darauf einzugehen. Er nahm sein Glas wieder vom Tisch und stellte fest, dass es bereits leer war. Gedankenverloren drehte er es zwischen seinen Fingern.
Oskar beobachtete den Mann eine Weile unter seinen gesenkten Augenbrauen. »Hören Sie, dieses Gespräch führt zu nichts«, sagte er. »Machen Sie es kurz. Übergeben Sie mich einfach den Behörden und vergessen Sie die ganze Sache. Damit wäre jedem gedient.« Und er wäre nicht länger in den Händen dieses Verrückten, dachte Oskar. Den Gendarmen war er schon oft genug entwischt, darin hatte er Übung.
Um Humboldts Mund spielte ein schmales Lächeln. »Dich nur hinter Gitter zu sperren wäre viel zu einfach. Es würde dir auch nicht gerecht werden, denn immerhin hast du deine Sache ja recht gut gemacht. Die meisten Trickbetrüger sind absolute Dilettanten. Armselige Taschenspieler. Man sieht ihnen schon aus zehn Meter Entfernung an, dass sie etwas im Schilde führen. Deine Nummer mit dem Aktenordner hingegen war ausgezeichnet.« Oskar wollte protestieren, aber Humboldt hob die Hände. »Ja, ja, ich weiß, du bist nur ein einfacher Botenjunge, aber nehmen wir mal an, du wärst keiner. Nehmen wir mal an, du wärst ein ganz gewöhnlicher kleiner Taschendieb …«
Jetzt also doch, was hatte der Mann nur mit ihm vor? Warum rief er nicht endlich die Gendarmen?
»… dann hättest du deine Sache sehr gut gemacht. Die Sache mit der Verkleidung, den Akten und der anschließenden Flucht über die Dächer – merveilleux!«
Oskar wusste nicht, was das Wort bedeutete, aber es klang wie ein Lob.
»Nicht gut genug, fürchte ich«, murmelte er.
Humboldts Augen leuchteten geheimnisvoll. »Nun, was das betrifft – eigentlich hattest du gar keine richtige Chance.«
»Wie meinen Sie das?«
Statt einer Antwort öffnete der Forscher eine Schublade. Er zog das Portemonnaie heraus, das Oskar ihm gestohlen hatte.
»Erinnerst du dich daran?«
»Allerdings.«
Der Forscher wedelte mit der Geldbörse. »Fragst du dich nicht, wie ich dich gefunden habe?«
»Doch, allerdings. Ich war doch schon längst im Haus. Es war unmöglich, mich zu sehen. Woher wussten Sie, welche Richtung ich einschlagen würde?«
Humboldt öffnete das Portemonnaie. »Sieh her.«
Er entnahm ihm das stumpf glänzende Metallstück, das Oskar bereits auf dem Dachboden aufgefallen war. Er legte es auf den Tisch und schnippte es zu ihm hinüber.
»Steck es ein.«
»Was soll ich?«
»Steck es ein. Und dann steh auf.«
Oskar überlegte einen Augenblick, ob er sich weigern sollte. Er war unfreiwillig in diesem Haus, das durfte er nicht vergessen. Andererseits interessierte ihn die Sache.
Er tat also, wie Humboldt gesagt hatte, und erhob sich von seinem Stuhl. Humboldt griff in seine Hosentasche und holte einen merkwürdigen kleinen Gegenstand heraus. Ein Metallgestell, in dem so etwas wie die Miniaturausgabe einer Weltkugel hing, nur mit dem Unterschied, dass diese hier auf zwei Achsen lagerte und in jede Richtung frei rotierte. Auf der Außenseite der Kugel waren mehrere Markierungen aufgemalt, die wie Winkelmaße aussahen. Einer dieser Punkte war rot hervorgehoben und zeigte genau auf ihn.
»Und jetzt beweg dich.«
Oskar trat einen Schritt zur Seite. Der rote Punkt folgte ihm. Er folgte ihm auch, als er nach links um den Tisch herum und wieder zurückging. Selbst als er auf einen Stuhl kletterte, wieder hinuntersprang und vor dem Tisch in die Hocke ging, folgte ihm der rote Punkt, als könne er jede seiner Bewegungen voraussehen. Wie ein Auge.
»Hexerei«, murmelte Oskar, während er misstrauisch das seltsame Gerät anstarrte.
»Keineswegs.« Humboldt kicherte vergnügt. »Das Zauberwort heißt Magnetismus. Und zwar Magnete von einer besonders starken Sorte. Aus Meteoriten, um genau zu sein.«
»So wie ein Kompass?«
»Exakt, mein junger Freund. Nur, dass sich der magnetische Südpol nicht in der Arktis befindet, sondern hier in deiner Hand. Egal wohin du auch gehst, egal wie weit du dich auch von mir entfernst, das Auge zeigt mir stets die Richtung.«
»Auch durch Gebäude hindurch?«
»Durch Gebäude, durch ganze Stadtteile, ja selbst durch Berge hindurch. Willst du es mal nehmen?«
Oskar nickte und ließ sich von Humboldt den seltsamen kleinen Kasten geben. Er war bedeutend schwerer, als er aussah. Die kleine Kugel blickte ihn an wie ein bösartiges Auge. Sie erinnerte ihn an jene Augen lebensechter Holzmarionetten, wie sie manchmal auf Jahrmärkten zu bestaunen waren. Oskar hatte Marionetten noch nie leiden können.
Von dem Metallgestell gingen leichte Schwingungen aus. Es brummte und summte und kitzelte seine Finger. Als er versuchte, sie zu lösen, spürte er, dass sie irgendwie an dem Metall zu kleben schienen. Angewidert stellte er das Ding zurück auf den Tisch und legte auch gleich das krumme Metallstück daneben. Es flutschte sofort herüber und blieb an dem Kasten hängen.
»Hexerei«, murmelte er noch einmal, dann richtete er seinen Blick wieder auf Humboldt. »Na schön. Wenn Sie mich also nicht einsperren lassen wollen, was dann? Sie werden mich wohl kaum einfach laufen lassen.«
Humboldt wiegte den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht gleich. Zunächst mal möchte ich, dass du dir mein Angebot anhörst.«
»Ein Angebot?« Oskar zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. »Was hätte einer wie Sie jemandem wie mir schon anzubieten?«
»Ich will, dass du mich auf meiner nächsten Reise begleitest.«
»Wie bitte?«
»Du wirst deine Strafe durch harte Arbeit abtragen«, fuhr der Forscher fort. »Waschen, putzen, Waffen reinigen, Besorgungen machen. Ich brauche einen Diener, der mir zur Hand geht und das tägliche Einerlei erledigt. Ein Junge, der es gewohnt ist, selbstständig zu handeln, und sich nicht fürchtet, wenn es mal brenzlig wird. Meine letzte Reise stand unter einem – sagen wir mal – ungünstigen Stern.« Der Forscher wechselte einen Blick mit Eliza, die immer noch stumm im Hintergrund stand. »Ich wurde beraubt und meine Diener ließen mich im Stich. Allesamt Leute, die ein ellenlanges Register an Referenzen vorzuweisen hatten. Menschen, die in den feinsten Häusern Berlins gearbeitet hatten. Und alle haben sie mich enttäuscht.