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unserem Dorf wohnen und heute nicht hier sind, weil sie eine andere Religion haben.«

      Der Küster sprach den Menschen aus den Herzen, weil es in den letzten Jahren zunehmend zu Benachteiligungen einzelner Bevölkerungsgruppen gekommen war. Die Polen waren der russischen Obrigkeit suspekt, weil sie dieses Land als das ihre ansahen. So war es ja auch jahrhundertelang gewesen, bis die Russen Wolhynien im Rahmen der dritten polnischen Teilung schlichtweg ihrem Imperium einverleibten. Dass so viele Deutsche in dieser Region lebten, war dem Zaren erst recht ein Dorn im Auge. Die Deutschen konnten weiter im Osten leben, der wesentlich dünner besiedelt war. Aber Wolhynien war nicht allzu weit von Deutschland entfernt. Und sollte es einmal zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, dann hätte man den Feind im eigenen Land. Um diesem Ansinnen des Zaren Nachdruck zu verleihen, wurde die russische Verwaltung angewiesen, auslaufende Pachtverträge mit Deutschen nicht mehr zu verlängern, und Banken durften keine Kredite mehr an Deutsche vergeben, um eigenes Land zu kaufen. Immer mehr Familien verließen daher die Gegend. Einige zogen gen Osten, viele gingen nach Ostpreußen, einige wanderten nach Südamerika aus, aber die meisten versuchten einen Neuanfang in Nordamerika.

      Auch den Ukrainern ging es nicht gut. Viele waren unter polnischer Herrschaft, und dann unter russischer, bis 1861 Leibeigene gewesen. Das hatte zur Folge, dass die meisten bis heute kein eigenes Land im eigenen Land besaßen. Die Auswanderung von Ukrainern, insbesondere nach Kanada, war enorm. Als die polnischen Gutsherren dann 1861 ohne Leibeigene dastanden, konnten sie ihre großen Felder nicht mehr bestellen. Also verkaufte oder verpachtete man. Da die Ukrainer dafür zu arm waren, strömten Deutsche, vor allem aus Polen kommend, ins Land. Bis zur Jahrhundertwende waren hunderte deutsche Dörfer und Kolonien entstanden. Es gab auch schon vorher deutsche Ansiedlungen, vor allem Mennoniten, die von Westpreußen gekommen waren. Viele von ihnen hatten niederländische und niederdeutsche Namen, da ihre Vorfahren aus Friesland gekommen waren, wo man sie, wie in den meisten deutschen Landen, aufgrund ihrer Religion verfolgte. Es gab ukrainische, polnische, russische, weißrussische, lithauische und jüdische Dörfer. Ein großer Flickenteppich aus alten und neueren Ansiedlungen, in denen zum eigenen und zum allgemeinen Wohl des Landes hart gearbeitetet wurde und dieses Land damit zu einer wichtigen Kornkammer Europas machten. Doch dies alles war nun in Gefahr. Schwarze Wolken zogen auf. Die Herrscher Europas hatten ihre eigene Sicht der Dinge. Ihnen ging es offenbar nicht um das allgemeine, sondern um ihr eigenes, ganz spezielles Wohl.

      Vor diesem Hintergrund gelang es den meisten Leuten nicht, das Weihnachtsfest so zu genießen, wie es sonst üblich war. Viele Familien waren dezimiert. Wie konnte man sich über den Festtagsbraten freuen, wenn die Kinder und Enkelkinder in Amerika waren? Wahrscheinlich würde man sie nie wiedersehen. Für immer mehr Familien wurde Weihnachten zu einem Gefühlsbad aus Kummer, Schmerz und Tränen. Hinzu kam, dass immer mehr über einen drohenden Krieg geredet wurde. Wie sollte man sich das vorstellen? Und warum überhaupt? Es gab weit und breit keinen Menschen, der Krieg wollte. Nicht hier in Janowka. Und in den anderen Dörfen, die man kannte, auch nicht. Aber jedem war bewusst, dass es Dinge gab, die man nicht beeinflussen konnte. Dazu hätte man schon in die Köpfe der Mächtigen eindringen müssen.

      Die Exner-Sippe in Janowka war an Weihnachten 1912 noch nicht durch Auswanderung verkleinert. Und mit Hilfe von ein paar Gläsern Wein gelang es recht gut, die große Politik in einem anderen Lichte zu sehen und damit die Kriegsgefahr zu entschärfen.

      »Ach, was war das für ein schönes Weihnachtsfest!« sagte Christine zu ihrem Mann, als sie zusammen in der Stube saßen.

      »Es gibt doch nichts schöneres als die Bude so richtig voll zu haben«, stimmte Karl ihr zu.

      »Wer mir leid tut, ist Robert. Er hatte diesmal bestimmt ein trauriges Fest,« meinte Christine, die nun etwas nachdenklicher geworden war. Robert, ein Bruder von Karl, wohnte weiter südlich in Berestetschko im Kreis Dubno. Er betrieb dort seine Tuchfabrik. Vier seiner Söhne waren in diesem Jahr nach Kanada ausgewandert.

      »Ja, aber was will man machen? Wenn die jungen Leute sich entschieden haben, diesen Weg zu gehen, kann man sie nicht festbinden.«

      »Ich denke«, sagte nun Christine, während sie sich Tee nachschenkte, »uns bleibt dieses Schicksal erspart. Wir haben ja nur vier Kinder, und jedes müsste hier sein Auskommen finden.«

      »Die Frage ist«, sagte Karl und nahm sein Weinglas in die Hand, »ob in Zukunft überhaupt noch jemand sein Auskommen haben wird.«

      »Also, mein Junge, hiev deinen Hintern auf das Sofa und hör mir zu«, setzte Karl an, als er mit Eduard allein in der guten Stube war.

      Es war ein paar Tage nach Weihnachten. Friedrich und Serafine hatten mit Mutter Christine geredet, die dann schließlich entschieden hatte, dass Katlika heiraten durfte. Natürlich war Karl der Meinung, er hätte diese Entscheidung getroffen. Also redete er weiter auf Eduard ein: »Ich habe mit Christine geredet, und wir haben beschlossen, dass Katlika im kommenden Jahr heiraten kann.«

      Eduard bekam eine Gänsehaut und wurde rot im Gesicht.

      »Es ist klar, dass du gut für sie sorgen musst. Du bist zwar auch noch sehr jung, aber dass du arbeiten kannst, habe ich wohl bemerkt. Wir haben Katlika zu einem ordentlichen, fleißigen Mädchen erzogen, die dir eine gute Frau sein wird. Also sei gefälligst gut zu ihr, damit ich dir nicht die Knochen brechen muss. Die Hochzeit können wir nach Ostern ansetzen. Und bis dahin wirst du dich beherrschen.«

      Er zwinkerte seinem künftigen Schwiegersohn verschwörerisch zu und reichte ihm lächelnd die Hand.

      »Ein bisschen was darfst du schon. Ihr seid ja jetzt quasi verlobt. Aber den großen Honigtopf hebst du dir auf, bis der Pastor euch seinen Segen gegeben hat. Ich hoffe, du hast mich verstanden. Oder muss ich deutlicher werden?«

      »Nein, das ist nicht nötig.«

      Eduard war froh, als sein zukünftiger Schwiegervater endlich seine Hand losließ. Die Peinlichkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Allein bei dem Wort Honigtopf hätte er im Boden versinken können. Er hatte zwar nie Schwierigkeiten gehabt, über intime Dinge zu reden. Mit Gleichaltrigen war das sogar ein Vergnügen. Aber hier ging es um ihn, und er kam sich völlig entblößt vor. Und Karl war ein erfahrener, mit allen Wassern gewaschener Mann. Er schien sich gut auszukennen. Und höchstwahrscheinlich hatte er selbst sich nicht an solche Anweisungen gehalten, als er sich einst um Christine bemüht hatte. Das war bei diesem Karl Exner einfach nicht vorstellbar.

      Als Eduard von der Stube in die Küche trat, starrten ihn alle grinsend an. Friedrich, Gottlieb, Serafine,

      Christine, Martha – allen war auf die Stirn geschrieben, was sie jetzt dachten. Natürlich hatten sie an der Tür gehorcht. Und bei Karls durchdringender Stimme hatten sie jedes Wort mitbekommen. Gottlieb wollte gerade eine unflätige Bemerkung machen. Aber Katlika knuffte ihren Bruder mit dem Ellenbogen in die Seite und ging auf Eduard zu. Von der Stube ertönte Karls Stimme: »Also, küssen darfst du sie ab heute schon.«

      »Aber anfassen nur bis zu Gürtellinie!« rief jetzt Gottlieb.

      »Willst du wohl den Mund halten!« fauchte seine Mutter ihn an.

      »Das mit den Händen gilt auch für dich, Katlika«, setze Gottlieb nach, während Christine ihrem Sohn einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte.

      »Durch solche Peinlichkeiten muss man durch, Eduard«, sagte Friedrich zu seinem künftigen Schwager.

      Die beiden saßen abends in Friedrichs Haus. Serafine stillte ihre kleine Tochter in der Küche, während die beiden Männer es sich im wohlig warmen Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten.

      »Und wenn ihr nach Ostern heiratet, dann ist es auch nicht so schlimm, wenn du nicht alles so genau befolgst, wie Vater Karl es dir vorgeschrieben hat. In Wirklichkeit glaubt er ja selbst nicht daran, dass du deine Hände bei dir behältst. Allerdings ist jetzt Winter. Da muss man sich schon ein warmes Plätzchen für bestimmte Tätigkeiten suchen, sonst kriegt man einen kalten Hintern.«

      »Friedrich!«,

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