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legte Heft und Feder beiseite und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Sophie liebte die Bibliothek ihres Vaters. Die schweren Holzvertäfelungen und den Kachelofen mit seinen spannenden Jagdmotiven, die sie schon als Kind fasziniert hatten. Den herben Duft der in Leder gebundenen Bücher, den Spieltisch mit seinen Figuren aus Elfenbein und den riesigen Intarsien-Sekretär, an dem sie gerade saß.

      Gedankenverloren glitt ihre Hand über den goldenen Globus, den ganzen Stolz ihres Vaters. »Oh ja, Indien, eine vortreffliche Wahl«, hörte sie ihn sagen. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Ach, Papa! Seufzend betrachtete Sophie das Gemälde über dem Spieltisch, aus dem ihr Vater in prächtiger Uniform, die Arme vor der ordenbewehrten Brust verschränkt, mit gestrengem Blick auf sie herunterschaute. Wie hatte sie diese Stunden genossen. Nur Papa und sie. Kein quengelnder Quälgeist, der ihr die Aufmerksamkeit entzog. Kein großer Bruder, den sie von Herzen um seine Rolle als zweiter Mann im Haus beneidete, eine Rolle, die er in Abwesenheit seines Vaters durchaus bestimmt in Anspruch nahm, auch in Zeiten, als er selbst noch ein Kind gewesen war. Natürlich liebte sie auch ihre Mutter, dennoch fühlte sie sich ungleich wohler in der Aura machtvoller Überlegenheit, die ihren Vater stets umgab. Auf einem kleinen Kinderschemel zu seinen Füßen sitzend, hatte sie ihm andächtig zugesehen, während er in seine Bücher oder Akten vertieft las oder schrieb. Meist hatte sie sich mucksmäuschenstill verhalten, um ihn nicht zu stören. Doch wenn ihre Füße nach einiger Zeit gar zu unruhig geworden waren, war sie aufgesprungen und hatte mit dem Globus gespielt. »Dreh, dreh, dreh dich im Kreis«, hatte sie leise vor sich hingesummt, die Augen fest geschlossen, bis die Weltkugel zum Stillstand kam und ihre kleinen Finger auf einen weit entfernten Punkt der Erde zeigten, dessen Namen sie nicht einmal gekannt hatte. Dann hatte Papa seine Arbeit beiseitegeschoben und eine Geschichte erzählt. Über das Land, die Menschen, die dort wohnten, und die abenteuerlichen Entbehrungen der langen Reise. Jedes Mal hatte sie gebettelt: »Papa, lasst uns dort hinfahren. Nur wir beide!« Und jedes Mal hatte sie dieselbe Antwort erhalten, mit demselben nachsichtigen Lächeln: »Ach, Schätzchen, du weißt doch, ich bin bei Hofe unabkömmlich und du bist eine junge Dame. Und junge Damen gehen nicht auf Reisen.«

      Sophie beobachtete die Weltkugel, die sich immer langsamer um ihre eigene Achse drehte. Wann hatten sie sich eigentlich davongestohlen, diese traulichen Momente? Fast unbemerkt war sie ihrem Kinderschemel entwachsen und damit der ungeteilten Zuwendung ihres Vaters, der mittlerweile kaum mehr zu Hause anzutreffen war. Natürlich, es war der politischen Lage geschuldet, die ihre Mutter standhaft ignorierte, aber auch der Tatsache, dass aus dem neugierigen kleinen Mädchen eine nachdenkliche junge Frau geworden war, die, davon war nicht nur ihre Mutter überzeugt, nicht in die richtige Schublade passen wollte.

      Schließlich stand der Globus still. Ganz wie ihr eigenes Leben, dachte Sophie resigniert. Wie sehr sie sich langweilte. Und wie sehr sie sich manchmal wünschte, ein Mann zu sein. Zu studieren, zu reisen, die Welt und ihre Geheimnisse zu ergründen. Was wurde von ihr als Frau erwartet? Nichts weiter als ein hübsches Aussehen, eine charmante Konversation, eine vorteilhafte Heirat und gesunde Erben. War sie undankbar, wie ihre Mutter nicht müde wurde zu betonen, nur weil sie anders sein wollte?

      Tante Louise war die Einzige, die sie verstand. Als langjährige Mätresse des Fürsten von Hainburg – sie selbst hatte daraus nie ein Geheimnis gemacht, während ihre Schwester, Sophies Mutter, immer das Gesicht verzog, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, wenn das Gespräch darauf kam – besaß sie eine überaus großzügig geschnittene Wohnung in der Stadt und ein entzückendes Gartenpalais. Bereits in jungen Jahren mit dem wesentlich älteren Adalbert, Freiherrn von Lilienthal, einem Freund ihres Vaters, verheiratet, hatte sich die temperamentvolle Schönheit auf den ersten Blick in den Fürsten verliebt. Mittlerweile war sie seit Langem verwitwet und lebte sorglos von der stattlichen Apanage, mit der der Fürst sie vor wenigen Jahren abgefunden hatte. Während der Saison führte sie einen kleinen, aber elitären Salon, in dem nicht nur Mitglieder des Wiener Adels, sondern auch Künstler und Gelehrte verkehrten. Im Sommer verreiste sie oder zog sich in ihr Haus auf der Wieden zurück, wo Sophie sie häufig besuchte. Sie fühlte sich wohl bei ihrer Tante, bewunderte sie für ihre Bildung und Weltoffenheit, wenngleich Louises frivole Erzählungen ihr immer wieder die Schamesröte ins Gesicht trieben.

      Entschlossen nahm Sophie die Feder zur Hand. Ihr Tagebuch war zu ihrem engsten Vertrauten geworden. Fast täglich saß sie hier, in der stillen Abgeschiedenheit des väterlichen Arbeitszimmers, um ihre Gedanken ins Reine zu bringen. Sie hatte es kaum glauben können, als ihr Vater ihr an einem beschaulichen Sonntagnachmittag aus heiterem Himmel und trotz der sichtlichen Missbilligung ihrer Mutter die Erlaubnis erteilt hatte, seinen Schreibtisch zu benutzen. Nur sie beide wussten – sein verschwörerisches Augenzwinkern sagte dabei mehr als tausend Worte –, dass er mit diesem außerordentlichen Privileg Sophies schönste Kindheitserinnerungen zum Leben erweckte.

      Mit gestochen scharfer Handschrift füllte sie Seite um Seite des ledergebundenen Büchleins, mit ihrem Schicksal hadernd und von einem Leben träumend, das ihr so fern erschien wie die Länder, die sie in ihrer Fantasie bereiste. Würde sie ihrem Tagebuch nur von den Ereignissen berichten, die ihr Leben in Wahrheit zäh wie Kuchenteig vergehen ließen, würde sie schwerlich mehr als ein paar eintönige Zeilen zu Papier bringen können.

      Sophie lehnte sich zurück. Wie ungerecht sie gewesen war, als die unschuldige Bemerkung ihrer kleinen Schwester sie so sehr erzürnt hatte. Fannys Oberflächlichkeit war einfach mehr, als sie ertragen konnte. Ihre Putzsucht, ihr Hang zu Klatsch und Tratsch, der sich schon jetzt bemerkbar machte, ihre unbeherrschte Gedankenlosigkeit und Vergnügungssucht – waren sie wirklich Schwestern? Dabei liebte sie Fanny, ihre Lebenslust, ihr ausgelassenes Lachen und ihre stets gute Laune. Wäre sie nur ein wenig anders. Dazu kam, dass Georg Fannys leichtfüßigen Übermut ganz offensichtlich ihrer eigenen In-sich-Gekehrtheit vorzog. Was Sophie wiederum in ihrer Meinung bestärkte, dass Bildung und Verstand einer Dame sichtlich nicht zum Vorteil gereichten. Als ginge es um nichts anderes, als sich zu verlieben! Fanny lief mit offenen Augen in ihr Unglück, davon war Sophie überzeugt. Aber es war sinnlos, mit ihr darüber zu reden. Niemand würde Fanny dazu bringen, sich diese romantischen Träumereien aus dem Kopf zu schlagen. Und Sophie hoffte von Herzen, dass nicht das Leben selbst ihre kleine Schwester eines Besseren belehren würde.

      Seufzend wandte sie sich wieder ihrem einzig getreuen Freunde zu und schrieb sich den Kummer von der Seele.

      *

      »Geh Stani, du Landei, sei kein solcher Spielverderber! Der Abend hat grad erst begonnen.« Georg klopfte seinem Offizierskameraden freundschaftlich auf die Schulter. »Wien ist nicht Tulln. Jetzt bist endlich in der Hauptstadt und dann benimmst dich wie ein Kadett aus der Provinz.«

      Stanislaus grinste gequält. »Du hast leicht lachen. Schneidig wie du bist, brauchst du die Mädels nur anzulächeln und sie liegen dir zu Füßen. Aber schau mich an. Die nehmen mich an deiner Seite ja nicht einmal wahr.«

      Langsam schlenderten sie den Kohlmarkt entlang, und wie um seine Worte Lügen zu strafen, trat eine großgewachsene Brünette mit etwas zu grell geschminkten Lippen auf Stanislaus zu. »Na, wie wär’s mit uns, Süßer?«

      Rasch zog Georg seinen zaudernden Freund weiter. »Da hab ich was Besseres für dich«, flüsterte er. »Die Stanzi hat eine Cousine, die wohnt bei ihr. Die beiden freuen sich sicher, wenn wir sie zum Tanzen in den ›Wilden Mann‹ ausführen. Und wer weiß, vielleicht begleiten wir sie danach nach Hause.«

      Stanislaus, in Gedanken noch immer bei den üppigen Lippen des Nachtschattengewächses, seufzte. »Da sieht du’s wieder. Ich muss zahlen für mein Vergnügen. So eine spricht dich erst gar nicht an, weil sie weiß, dass du Schönere als sie umsonst bekommst.«

      Georg lachte laut auf. »Du bist aber auch wirklich ein Grantscherben. Endlich machst eine Eroberung, und dann ist’s dir auch nicht recht. Komm, wir holen die Stanzi ab.«

      »Was du immer redest«, murrte Stanislaus unwillig, trottete jedoch folgsam hinter seinem Freund her, der seinen Schritt beschleunigte.

      Sie bogen vom Kohlmarkt in eine Seitengasse mit wesentlich spärlicherer Straßenbeleuchtung ein. Rasch verlor Stanislaus die Orientierung. Er war erst seit ein paar Wochen in Wien stationiert und fand sich im Straßengewirr der Altstadt noch nicht zurecht.

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