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Die Matriarchin verließ den Silbernen Saal; sie hatte noch undeutlich gemurmelt, dass sie sich ein wenig hinlegen wolle. Die Edelsteinessenz glich in ihrer Wirkung ein wenig den Folgen nach dem Genuss von schwerem Rotwein.

       Riyala atmete auf. Wenig später kehrte auch sie dem unterirdischen Zeremonienraum den Rücken – erleichtert - und begab sich in ihr Gemach. Nachdem sie sorgfältig die Tür hinter sich verriegelt hatte, vertauschte sie ihre Kleidung mit dem Gauklerinnengewand, holte ihre Edelsteine aus ihrem Geheimversteck und nahm das Falkenauge in die Hand.

       Bei diesem geheimnisvoll golden schimmernden, halb transparenten „Reisestein“ hatte Riyala oft das starke Gefühl, er müsse außerdem noch eine andere Art der Energie besitzen ... sie gedachte das in ihm und seinem schwarzen Fleck verborgene Rätsel so bald wie möglich zu lösen. Natürlich hatte sie auch wegen seines Namens eine besondere Beziehung zu dem Edelstein; das „Auge des Falken“ erinnerte sie jedesmal an ihren geliebten Raubvogel.

       Seit jenem denkwürdigen Tag, da sie ihn geheilt hatte, war das Seelenband zwischen ihr und ihm stärker denn je. Es war durch Blut erneuert worden, und sie wusste nun, dass er sogar ein Teil ihres Namens war ... Der Falke pflegte jetzt auch auf seinen Streifzügen häufiger als früher in Riyalas Nähe aufzutauchen ... womit er sie jedoch nicht selten in Verlegenheit brachte. Schon mehrmals war Nigel auf den Falken aufmerksam geworden.

       Riyala fiel ein, dass auch Markho, der Falkner, erst kürzlich ihr gegenüber das veränderte Verhalten des Vogels erwähnt hatte. „Mir scheint, er jagt seltener, sondern verbringt die meiste Zeit damit, Euch zu beobachten“, hatte er in zwar respektvollem, aber doch recht befremdetem Ton gesagt.

       Ich muss noch besser aufpassen, dachte Riyala, damit sich meine verschiedenen Leben nicht miteinander vermischen ...

       Doch nun wartete zunächst einmal Nigel auf sie. Und auch sie konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.

       Sie konzentrierte sich also auf das „Auge des Falken“ und spürte sogleich das Strömen der magischen Energie, die es ihr ermöglichte, sich an einen Ort ihrer Wahl zu versetzen. Die Kraft des goldenen Edelsteines begrenzte das Reisen jedoch auf einen Umkreis von etwa fünfzig Meilen; das hatte der Magister seiner Schülerin erklärt.

       Riyala wählte wie so oft in letzter Zeit eine Buschgruppe, etwa fünf Wegminuten von Arjenez entfernt. Das Dorf selbst lag ja keine vier Meilen außerhalb von der Stadt Co-Lha.

       Unter dem immer gleichen fahlblauen und wolkenlosen Himmel wanderte sie zur Tempelruine, bei der sie mit ihrem Freund verabredet war. Kein Lüftchen regte sich, und der Boden war so trocken, dass sich breite Risse in ihm aufgetan hatten, und zwar nicht nur hin und wieder ein paar, sondern überall. Wohin man auch sah, war das verdurstende Land rissig – aus der Luft musste es so wirken, als sei es mit zahllosen tiefen Wunden übersät. Wunden wie von Schwerthieben.

       Riyala wusste nicht, weshalb ihr gerade dieser Vergleich in den Sinn kam. Aber auf einmal befiel sie eine düstere, unbestimmte Vorahnung; genau wie an jenem Tag, als ihr Falke sich vor ihr zu fürchten schien. Sie fröstelte trotz der drückenden Hitze.

       Nigel saß ruhig auf einem umgestürzten Säulenstück, aber seine dunklen Augen leuchteten auf, als er das Mädchen kommen sah. Er zog Riyala ohne ein Wort in seine Arme, sprang dann mit ihr hoch und wirbelte sie im Kreis herum.

       Das war sonst nicht seine Art – etwas außergewöhnlich Gutes musste passiert sein. Vielleicht waren seine Mutter und seine Schwestern endlich wieder kräftig genug, um aufzustehen? Immerhin hatte „Zalana“ dafür gesorgt, dass Nigels Familie noch besser ernährt wurde als die übrigen Dorfbewohner.

      „ Aber Nigel!“, stieß Riyala atemlos hervor, als er sie endlich wieder absetzte. „Was ist denn nur los mit dir?“

       Er lachte, und es war ein so wildes, ausgelassenes Lachen, dass sie einfach mit einstimmen musste. Normalerweise war er ein ernster, manchmal sogar bitterer junger Mann, der schon viel Leid gesehen hatte.

      „ Ich muss dir etwas zeigen!“, rief er voller Begeisterung. „Endlich ist es mir gelungen, die Mittel für unsere Rettung und Befreiung zu erwerben ...“ Er hielt inne, und seine feurigen dunklen Augen blickten tief in die ihren. „Meine Liebste ... ich war dir gegenüber nicht offen genug, was meine Pläne betrifft. Ohnehin habe ich nur wenige Menschen eingeweiht, und du – verzeih mir – du bist nun einmal nicht von hier.“ Er errötete. „Doch ich vertraue dir, und ab sofort ist Schluss mit der Geheimniskrämerei! Du und ich, wir gehören zusammen ... seit jener Nacht am Fluss.“ Seine kräftigen Arme schlossen sich erneut um Riyalas schlanken Körper, und er küsste sie leidenschaftlich.

       Dann zog er sie mit sich ins Innere des verfallenen Tempels. Und dort erkannte Riyala in wachsendem Entsetzen, was er mit den „Mitteln der Befreiung“ meinte: Nur notdürftig von dürren Zweigen bedeckt, lagen und stapelten sich überall die verschiedenartigsten Waffen: Wurfdolche, Äxte, Armbrüste, Hellebarden, Piken, Lanzen, ein paar Schwerter und sogar mehrere Schwefelkatapulte.

       Stolz ließ Nigel seinen Blick über dieses Arsenal schweifen und erklärte feierlich: „Kampf der Ungerechtigkeit! Unser Sieg ist greifbar nahe!“

       Obwohl Riyala auch das wirklich hätte voraussehen können, war sie zunächst starr vor Schreck. Versteckte Andeutungen hatte Nigel genügend gemacht, aber sie hatte nicht geglaubt, dass es ihm so ernst war. Bei der Göttin – er hatte tatsächlich vor, mit einem Haufen bewaffneter Bauern die Stadt zu stürmen!

      „ Du bist völlig verrückt!“, fuhr sie ihn an, nachdem sie sich wieder gefasst hatte.

       Er zuckte zusammen. „Nein, keineswegs. Der Befreiungskampf ist der einzige Ausweg, der uns bleibt. Du musst das einfach verstehen, Zalana ...“

      „ Nein, das verstehe ich nicht! Du würdest dabei getötet werden, und ... und ich ... Ich kann doch noch mehr Vorräte und Wasser auftreiben, und, und ...“, sprudelte es wirr aus ihr hervor.

       Nigel sah sie beinahe mitleidig an. „Liebste, wir sind dir sehr dankbar für deine Hilfe, aber du allein kannst es nicht schaffen, das gesamte Volk von Co-Lha vor dem Untergang zu bewahren. Wir müssen kämpfen!“

      „ Die meisten Bauern können doch mit keiner einzigen dieser großartigen Waffen umgehen!“, rief Riyala wütend und voller Verachtung.

      „ ICH kann es“, erwiderte er finster. „Und ich werde sie darin unterweisen, so gut es in der kurzen Zeit geht – der Rest kommt in der Hitze des Kampfes von allein! Der Wille zu überleben wird unsere Hände stark und geschickt machen!"

      „ Ihr werdet niedergemetzelt wie ein Haufen Schafe!“

       Nun starrte auch Nigel sie zornig an; seine Geduld und sein Verständnis schwanden zusehends.

       Riyala bat, bettelte und flehte ihn an, sich das Ganze wenigstens noch einmal zu überlegen, doch er blieb fest. Selbst als sie in Tränen ausbrach, änderte das nichts an seiner Entschlossenheit.

      „ Wir werden Co-Lha am Tage nach dem nächsten Vollmond angreifen.“

       Mit diesen Worten wandte er sich brüsk ab, packte eine Armbrust und trat ins Freie.

       ... nach dem nächsten Vollmond – das war schon in drei Tagen! Riyala hörte auf zu weinen und folgte ihm.

       Plötzlich hörte sie ihn erregt rufen: „Da ist ja dieser Unglücksvogel wieder, der dich andauernd verfolgt! Ich schieße ihn ab ...“

       Schon hatte er den Bolzen eingelegt, spannte und legte auf den am Himmel kreisenden Falken an.

      „ NEIN!“, schrie Riyala. Sie sprang vor und fiel ihrem Freund in den Arm.

       Er ließ von seinem Vorhaben ab, aber nun war er ernsthaft böse, zumal sie sich weigerte, ihm ihr Verhalten zu erklären, und es folgte eine heftige Auseinandersetzung.

       Sie trennten sich im Streit.

       *

       Noch nie zuvor während ihrer Ausbildung bei

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