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      Judith Arendt

      Helle und die kalte Hand

      Der zweite Fall für Helle Jespers

      Kriminalroman

      Atlantik

      For Ayuna og Oliver, tak

      Der Flugsand hat die mächtigen Gewölbe überdeckt,

      Dünenweißdorn und wilde Rosen wachsen über die Kirche hin,

      über die der Wanderer jetzt zum Turm hinschreitet, der,

      ein riesiger Leichenstein auf dem Grabe,

      aus dem Sande emporragend, meilenweit zu sehen ist;

      keinem Könige setzte man einen prächtigeren Stein.

      Niemand stört die Ruhe der Toten;

      niemand wusste es, und auch niemand weiß es,

      erst jetzt kennen wir sein Grab – der Sturm hat mir in den Sanddünen davon gesungen.

      Hans Christian Andersen,

      Eine Geschichte aus den Sanddünen, 1859

      Råbjerg Mile

      Im März, Außentemperatur 12 Grad

      »Steig ein!«

      Das Auto bremste neben ihr, der junge Mann hielt die Beifahrertür auf.

      Sie kannte ihn. Es war keine schöne Erinnerung. Der Fahrer beugte sich nun ebenfalls hinüber, und auch ihn erkannte sie. Er sagte etwas, sie verstand ihn nicht. Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.

      Das Auto rollte langsam neben ihr die Straße entlang. Die Männer redeten auf sie ein. Schließlich bremste der Wagen, der junge Mann stieg aus und lief hinter ihr her. Er packte sie am Arm, aber sie riss sich los. Lief schneller. Gerade noch hatte ein anderes Auto sie überholt, aber nun war es weg und weit und breit kein anderes in Sicht.

      Weil sie den Bus verpasst hatte, musste sie nach Skagen laufen. Es war kein schöner Weg, und er war weit, führte an der Straße entlang und durch die Dünen, in denen lediglich ein paar versprengte Kiefern standen.

      Die Jacke war zu dünn, sie fror. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass dieses Land so schrecklich kalt sein würde. Seit ihrer Ankunft fror sie. Ständig blies ein Wind. Wie hielten die Menschen das nur aus?

      Der junge Mann lief hinter ihr her und hatte sie rasch eingeholt. Er packte sie an beiden Armen, nicht besonders fest, aber sie spürte doch, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Er redete auf sie ein, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht zurückgebracht werden. Sie hatte sich entschlossen, zur Polizei zu gehen, und wollte sich nicht davon abbringen lassen. Aber sie wusste, dass sie gegen die Männer keine Chance hatte, und sie wusste, dass sie hier waren, um sie zurückzubringen.

      Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein, hielt schließlich neben ihr mit laufendem Motor, und der junge Mann schubste sie auf den Rücksitz. Er nahm neben ihr Platz, und kaum hatte er die Autotür zugezogen, gab der Fahrer Gas.

      Die Männer lachten, aber es war kein Lachen, das ihr die Angst nahm.

      Fröstelnd schlang sie die Arme um den Oberkörper und presste die Beine zusammen.

      »Home!«, sagte der Mann am Steuer nun zu ihr. Sie sah seine Augen im Rückspiegel. Er versuchte zu lächeln.

      »We drive you home«, versuchte er noch einmal, sich ihr auf Englisch verständlich zu machen.

      Sie nickte stumm. Was sollte sie auch sagen? Dass sie auf dem Weg zur Polizei war, um alles auffliegen zu lassen? Das wäre ihr nicht gut bekommen. Also schwieg sie. Sie würde es wieder versuchen. Wieder und wieder.

      Die Männer fuhren mit ihr die Straße entlang, die zum Haus führte. Aber sie wusste, dass diese Männer nicht dafür bekannt waren, besonders hilfsbereit zu sein. Nicht zu ihresgleichen jedenfalls. Sie hatte Geschichten gehört.

      Filipe konnte nichts dafür. Ihr Schwager hatte sicherstellen wollen, dass sie in Sicherheit war. Er wollte ihr helfen. Hätte er gewusst, was hier geschah, er hätte sie angefleht, zu Hause zu bleiben. Zu Hause in Luzon.

      Warum musste sie nach Europa fliehen? Warum hätte sie nicht nach Indonesien gehen können? China, Malaysia, ganz egal, einfach nur weg aus ihrem Heimatland? Im Nachhinein wusste man es immer besser. Jetzt wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, nach Europa zu gehen. Alle zurückzulassen.

      Besonders ihre geliebte Schwester.

      Und so, wie die Dinge lagen, war es ihr besser ergangen als manch anderer. Das Kind war ein Schutz. Das war es schon auf der Überfahrt gewesen. Manche Männer hatten Respekt vor einer Mutter.

      Aber nicht alle, dachte sie müde und beobachtete aus den Augenwinkeln ihre zwei Begleiter. Was waren sie? Entführer? Bewacher?

      Sie hielt sich an dem Gedanken fest, dass die beiden es nicht wagen würden, sich an ihr zu vergreifen. Dafür war die Blonde zu mächtig. Die Blonde hatte ihre schützende Hand über sie und den Kleinen gebreitet, das glaubte sie zu wissen. Deshalb war sie zu dem Ehepaar gekommen. Am Anfang hatte sie sich glücklich geschätzt, die anderen Mädchen hatten es weitaus schlechter getroffen als sie. Aber dann …

      Plötzlich setzte der Mann den Blinker. Sie hatten die große Kreuzung erreicht, und der Weg zum Haus führte nach links, nicht nach rechts.

      Panik stieg in ihr hoch. Der junge Mann neben ihr bemerkte ihre Nervosität, er legte eine Hand auf ihr Knie und sagte etwas, das sie nicht verstand. Diese verfluchte Sprache.

      Sie hasste die Sprache, sie hasste das Land, sie hasste die Kälte, den Wind und die Menschen.

      Was in aller Welt hatte sie hierhergetrieben? Warum hatte niemand ihr gesagt, wie es in Wirklichkeit war, warum hatte sie sich das Falsche in den Kopf gesetzt?

      Sie kannte die Antwort.

      Ein Reh lief plötzlich aus dem Wäldchen am Straßenrand auf die Fahrbahn. Es war weit genug weg, dass der Fahrer es noch rechtzeitig sah und heftig bremste. Der Wagen schlingerte, sie wurden nach vorn geschleudert, der Mann neben ihr nahm seine Hand von ihrem Knie und stützte sich am Vordersitz ab.

      Der Fahrer fluchte, der Wagen stand nun quer auf der Straße, das Reh war mit einem großen Satz davongesprungen.

      Ohne nachzudenken, öffnete sie die Autotür, rollte aus dem Wagen und lief über die andere Straßenseite in den lichten Kiefernwald. Dahinter konnte sie die langgestreckte Düne erkennen.

      Sie rannte, wie von Dämonen gejagt, womit hatte sie das verdient? Sie hatte Sicherheit gewollt, für sich und ihr Kind, aber es war alles noch schlimmer geworden, und jetzt waren sie hinter ihr her.

      Dämonen.

      Sie wagte einen Blick zurück über die Schulter. Die Männer schienen sich uneins zu sein, ob sie ihr folgen sollten oder nicht, jedenfalls konnte sie sehen, dass die beiden noch auf der Straße am Auto standen und stritten.

      Sie blickte wieder nach vorne, versuchte, sich zu orientieren. Hier war sie schon einmal gewesen, das wusste sie, sie hatten einen Ausflug gemacht. Weit dort hinten war das Meer und davor die Kirche.

      Es war kein guter Ort, das hatte sie gespürt, als sie hier gewesen waren. Es herrschten Erdgeister tief im Sand. Sie hatte es unter ihren Füßen gespürt, damals, der Sand war tückisch, er vibrierte, und sie wusste, dass hier Geister und Dämonen lebten, die älter und mächtiger waren als die Menschheit. Sie wusste es, weil sie diese Wesen von zu Hause kannte.

      Die Geister, die im Wasser lebten und die die Fischer zu besänftigten suchten, indem sie ihnen einen Teil des Fangs opferten.

      Die Geister, die im Wald lebten, auf den Bäumen, sie sprangen herab und verbissen sich in die Kehlen der Menschen.

      Oder die Dämonen der Luft, die sich durch schlechten Atem bemerkbar machten, sie drangen durch die Poren in die Menschen ein und

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