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      Ezra Klein

      Der tiefe Graben

      Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika

      Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Harlaß

      Hoffmann und Campe

      Für Annie und Moshi

      Einleitung Was nicht passiert ist

      »Seit dem 8. November 2016 ist kaum ein Tag vergangen, an dem mich nicht die immer gleiche Frage gequält hätte«, schreibt Hillary Clinton in What Happened. »Warum habe ich verloren?«[1]

      What Happened ist ein ungewöhnliches Buch. Erschienen nur wenige Monate nach den Präsidentschaftswahlen 2016, stellt es den Versuch der gescheiterten Kandidatin dar, zu verstehen, warum sie versagt hat. Den Kern des Werkes bildet die Überzeugung, dass 2016 etwas Außergewöhnliches und äußerst Bizarres geschehen sei – ein Wahlausgang jenseits aller Grenzen des normalen US-Politikbetriebs, eine Anomalie, die nach einer Erklärung verlangt.

      Hätte 2012 Mitt Romney gewonnen, hätte Barack Obama kein Buch mit dem Titel What the Hell? herausgebracht. Genauso wenig hätten sich 2004, wäre John Kerry mit fliegenden Fahnen ins Weiße Haus eingezogen, Millionen von Amerikanern gemeinsam mit George W. Bush den Kopf darüber zerbrochen, wie es wohl zu einem solchen Dammbruch hatte kommen können. In der US-Politik gehört Verlieren einfach dazu. Clintons Buch – und ebenso den gequälten Aufschrei von Liberalen und notorischen Trump-Verweigerern, der nach den Wahlen landesweit die Kommentare bestimmte – durchzieht von Anfang bis Ende derselbe Unterton: die feste Überzeugung, 2016 sei weder mit 2012 noch mit 2004 vergleichbar. Es hätte eine Kontinentalverschiebung gegeben. Uns stünden Antworten zu.

      Fairerweise muss man einräumen, dass in der Tat etwas Seltsames passiert war. Donald Trump hatte die Wahl gewonnen. Es gibt ein Zitat von Maya Angelou, das während der Wahlen 2016 in sämtlichen sozialen Medien die Runde machte: »Zeigt dir jemand sein wahres Gesicht, dann glaube ihm.« Trump zeigte uns fröhlich, wer er war, und zwar unablässig. Er verspottete John McCain dafür, in Vietnam in Gefangenschaft geraten zu sein. Er stellte die Behauptung auf, der Vater von Ted Cruz sei an der Ermordung von JFK beteiligt gewesen. Er brüstete sich mit der Größe seines Penis und sinnierte in aller Öffentlichkeit darüber, dass sein gesamtes bisheriges Leben von Gier getrieben gewesen sei. Er machte keinerlei Geheimnis um seine Bigotterie oder seine sexistischen Auffassungen. Er nannte sich selbst ein Genie, während er auf Twitter Verschwörungstheorien verbreiten half – in Großbuchstaben.

      Nicht einmal Trumps Team glaubte daran, dass er gewinnen würde. Es wurde an Plänen für einen eigenen Fernsehsender gearbeitet, den er nach seiner Niederlage einrichten wollte. Und dann kam die Wahlnacht. Er gewann das Electoral College, das Wahlmännerkollegium, obwohl Nachwahlbefragungen ergaben, dass 61 Prozent der Wähler der Auffassung waren, er sei für das Präsidentenamt nicht ausreichend qualifiziert; obwohl die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler eine höhere Meinung von Clinton hatte und überzeugt war, Trump verfüge nicht über die Charaktereigenschaften, die das angestrebte Amt verlangte.[2] Die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten ist ein kostbares Heiligtum, ihr Inhaber gebietet über unvorstellbar zerstörerische Macht, und nun hatten wir es einer Naturkatastrophe in Menschengestalt übergeben. Noch dazu wissentlich, absichtlich.

      Dieser Affront ist die Motivation für What Happened. Clinton versucht, in dem Buch zu erklären, wie es Trump gelingen konnte, die Wahl zu gewinnen. Sie sucht sich selbst zu entlasten, doch ihre Verwirrung ist echt. Dazu tragen auch die besonderen Umstände von Trumps Triumph bei. Dem Popular Vote, den landesweit abgegebenen Wählerstimmen, zufolge hatte er mit einem Abstand von mehreren Millionen Wählerstimmen verloren, und seinen Vorsprung im Electoral College verdankte er lediglich einem winzigen Bruchteil der Bevölkerung. Clinton schreibt, sie hätte gewonnen, »hätten nur 40000 Leute in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania ihre Meinung geändert«.

      Bei einem derart hauchdünnen Vorsprung – insgesamt wurden mehr als 136 Millionen Stimmen abgegeben – kommt als Erklärung alles in Frage. Und genau darauf richtet Clinton ihre Bemühungen: Sie weist überzeugend nach, dass alles, von James Comeys Brief über die Einmischung Russlands bis hin zu einem tief verwurzelten Sexismus, für diese äußerst knappe Niederlage verantwortlich gemacht werden kann – und es wahrscheinlich auch war.

      Doch solche Analysen stellen eher leichte Fragen als schwere. Anstatt uns zu fragen, wie es Trump gelingen konnte, die Wahl zu gewinnen, sollten wir uns fragen, wie es ihm gelingen konnte, auch nur in die greifbare Nähe eines möglichen Sieges zu rücken. Wie ist es zu erklären, dass ein Kandidat wie Trump – ein Kandidat, der Geringschätzung gegenüber der Partei ausstrahlte, die er repräsentierte, und für den Job, den er anstrebte, nicht zu taugen schien – überhaupt so weit kommen konnte, dass letztlich ein paar tausend Stimmen über seine Wahl entschieden?

      Diese Frage stellte ich Mitte 2017 Larry Bartels, Politikwissenschaftler an der Vanderbilt University, dessen nüchterne Analyse der amerikanischen Politik ich über lange Jahre politischer Berichterstattung schätzen gelernt hatte. Mit ihm zu sprechen vermittelt einem das grauenhafte Gefühl, einen Computer mit Fragen zu füttern, dem es absolut egal ist, ob man die Ergebnisse seiner Berechnungen mag. Während er mich irritiert betrachtete, bombardierte ich ihn also mit meinen Theorien zu dieser Wahl. Nachdem alles aus mir herausgesprudelt war und ich nichts mehr zu sagen wusste, antwortete er mit einer einzigen Gegenfrage, und die beschert mir bis heute Albträume: Was, wenn überhaupt nichts Ungewöhnliches passiert ist?

      Die Prämisse all meiner Fragen, erklärte mir Bartels ruhig, bestünde darin, dass 2016 eine verrückte Wahl gewesen sei. Und damit hatte er recht. Genau das war mein Ausgangspunkt. Ich hatte Vorgänge in der amerikanischen Politik erlebt, die ich, wären sie in einer Folge von House of Cards aufgetaucht, als lachhaft und vollkommen unrealistisch bezeichnet hätte; und hätte ich sie in Veep – Die Vizepräsidentin gesehen, als zu düster, um lustig zu sein. Außerdem war ich nicht der Einzige, dessen Hirn eine solch hysterische Reaktion produzierte. Meine Meinung war eine gemäßigte Version der gängigen Meinung. So argumentierte etwa Adam Gopnik im New Yorker, Trumps Sieg sei ein Beleg für die Hypothese, dass »wir in einer Computersimulation leben und dass da seit kurzem irgendwas verrücktspielt«.[3]

      Doch Bartels hatte sich die Daten angeschaut und war anderer Auffassung. Es sehe nicht so aus, als sei die Wahl von 2016 eine Fehlfunktion gewesen. Es sehe, zumindest größtenteils, so aus, als sei sie wie alle anderen Wahlen gewesen, die wir in letzter Zeit gehabt hätten. Falls es überhaupt etwas Auffälliges an der Simulation gebe, dann, dass sie zu stabil sei – als hätten wir Tornados über unsere virtuelle Stadt hinwegfegen und Meteore auf sie niederregnen lassen, und dabei seien lediglich ein paar Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Das Entnervende an dem Ganzen sei seine Normalität.

      Nehmen wir die Geschlechterfrage: Clinton war die erste je von einer großen Partei als Präsidentschaftskandidatin nominierte Frau. Trump war ein männliches Es in einem Anzug, ein Idiot, der sich damit brüstete, Frauen an die Muschi zu grapschen, und, ohne mit der Wimper zu zucken, die sexuelle Anziehungskraft aller in Zweifel zog, die ihm zu widersprechen wagten. Diese Wahl war also wie geschaffen dafür, uns weitaus stärker nach Geschlecht zu polarisieren als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte.

      Doch schauen wir uns die Nachwahlbefragungen an. 2004 erhielt der republikanische Präsidentschaftskandidat 55 Prozent der Männerstimmen. 2008 erhielt er 48 Prozent der Männerstimmen. 2012 waren es 52 Prozent. Und 2016? Trump erhielt 52 Prozent der Männerstimmen und fuhr damit exakt Mitt Romneys Ergebnis ein.

      Bei den weiblichen Wählern sieht es ähnlich aus. 2004 erhielt der Republikaner 48 Prozent der Frauenstimmen. 2008 erhielt er 43 Prozent. 2012 waren es 44 Prozent. Und 2016? 41 Prozent. Weniger, aber lediglich zwei Prozentpunkte unter dem Ergebnis von John McCain 2008. Kein Erdbeben.

      Betrachten wir das Ganze aus einem anderen Blickwinkel: Dies war die Wahl der weißen Nationalisten. Eine Wahl, bei der die große Stunde der alternativen Rechten schlug. Eine Wahl, bei der Trump versprach, hinter dem ersten schwarzen Präsidenten in der Geschichte der USA gründlich aufzuräumen und Amerika wieder zu dem zu machen, was es einmal war, eine Mauer zu bauen

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