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die schüttelte nur den Kopf.

      Zita, die schweigend ein wenig abseits gestanden hatte, legte Melissa die Hand auf die Schulter.

      Mia war vollständig verwirrt. »Aber Mutter hat immer gesagt, Johanna sei ihre Mutter gewesen.« Sie sah Melissa an, doch die erwiderte ihren Blick nur erschrocken und ratlos.

      »Das hat deine Mutter auch geglaubt.« Wieder klang Franziskas Stimme seltsam tonlos und unheimlich. »Johanna wollte, dass sie es glaubt. Alles andere wäre gefährlich gewesen.«

      In Mias Kopf drehte sich alles. »Wieso gefährlich? Wer ist denn nun meine Großmutter? Und was hat das alles mit dir zu tun und mit dem Büchlein?«

      Franziska wandte den Kopf ab. »Es ist so lange her. Ich habe die Dinge damals in die richtigen Bahnen gelenkt.«

      Melissa erwachte aus ihrer Schockstarre und trat noch näher an Franziskas Bett. »Tante Franziska«, flehte sie, »wer ist meine Mutter? Bitte sag es mir. Du kannst mich nicht mit einer solchen Wahrheit konfrontieren und dann nicht konkret werden. Das ist … das ist grausam.«

      Franziska sah Melissa ruhig an. »Ich habe dich immer geliebt, Melissa, bei dir war deine Abstammung egal. Ich bin alt, ich möchte die Vergangenheit nicht aufwühlen. Raphael, er könnte noch etwas wissen.«

      Dann fiel ihr Kopf zur Seite, und Franziska Gerstett segnete 100 Jahre, nachdem sie das Licht der Welt erblickt hatte, das Zeitliche.

      2. Kapitel

      90 Jahre zuvor

      Essen, Ruhrgebiet, 11. Januar 1923

      Die Stadt brannte. Die Flammen, die über ihren Dächern zusammenschlugen, waren Flammen der Wut. Die Wut der Essener auf die Franzosen, die bewaffnet und in Uniform in ihre Stadt einmarschierten. Das Ruhrgebiet wurde besetzt, die Reparationsforderungen der einstigen Kriegsgegner sollten mit Gewalt durchgesetzt werden. Luise stand inmitten der aufgebrachten Menge, beobachtete den Einmarsch der Franzosen und überlegte, ob sich die Wut der Einheimischen so anfühlte wie die Wut der Russen während der Revolution, damals, 1917. Sie überlegte das sehr genau und stellte dann fest, dass sie sich die Antwort nicht geben konnte. Denn in jenem bitterkalten Winter, da hatte auch sie gekämpft, gemeinsam mit den Genossen, bei denen sie, die Kriegsgefangene aus Deutschland, überraschenderweise eine Heimat gefunden hatte. Das Mädchen, das voller Hass auf die Russen die erzwungene Reise von Ostpreußen nach Russland angetreten hatte, das so voller Groll gewesen war, hatte sich irgendwann mit ihnen angefreundet, solidarisiert. Weil es gut tat, für etwas zu sein, für etwas zu kämpfen. Für die Heimat zu kämpfen. Aber die russische Heimat, für die sie gekämpft hatte, war nicht die ihre gewesen, ihre Heimat war untergegangen, zusammen mit der von Russen ermordeten Großmutter, den ermordeten Eltern. Sie war zurückgekehrt zu ihrem Verlobten, hatte ihre Heimat in ihm zu finden geglaubt, doch auch er, Siegfried, war untergegangen. Ersoffen im gierigen, menschenverschlingenden Meer des Kriegs. Nein, er war nicht gefallen. Das nicht. Aber sie hatten ihm das Bein weggeschossen und ihm damit seinen Stolz genommen, als halber Mann fühlte er sich seither und badete im Teich des Selbstmitleids. Dabei hatte es anfangs noch so ausgesehen, als könnten sie es schaffen. Justus, ihr Schwager, der in Konstanz eine Textilfabrik besaß, war in Gefangenschaft gewesen, Siegfried hatte die Firma in seiner Abwesenheit geleitet, ins Feld konnte er mit seinem einen Bein ja nicht mehr. Er war gut gewesen, wirklich gut. Siegfried hatte so viel geleistet und Justus wollte ihn auch behalten, er hätte ihn gut gebrauchen können. Aber Siegfried ließ es nicht zu. Als Justus aus der Gefangenschaft heimkehrte, gab es bitteren Streit zwischen den beiden Männern, und Siegfried schleuderte Justus entgegen, er brauche sein Mitleid nicht. Er werde es allein schaffen, allen zeigen im Ruhrgebiet, bei den Krupp-Werken. Grob hatte er sie, Luise, entwurzelt. Sie, die gerade zaghaft und schüchtern erste Wurzeln in den neuen Heimatboden am Bodenseeufer gesteckt hatte, hatte er gepackt und nach Essen geschleift, in diese hässliche, hässliche Stadt.

      Und nun stand sie hier. Siegfried hatte einen schlechten Posten bei den Krupp-Werken, war nicht mehr als ein Arbeiter, aber er gab es nicht zu. Er sei immerhin Arbeiterführer, sagte er stolz. Ja, nun stand sie hier und sah den Truppen zu, die in die Stadt einzogen.

      Aus Siegfried, ihrem einst so leuchtenden Helden, der sie küsste, bevor ihre Welt unterging, damals, im ostpreußischen Neidenburg, war ein verbitterter, verkniffener, selbstmitleidiger Mann geworden.

      Trüb blickte Luise auf die Empörung, die ihr entgegenschlug. Die Deutschen schrien, spuckten, erhoben die Fäuste. Wie gerne würde sie mit ihnen schreien. Wie gerne wieder etwas fühlen – und sei es Empörung. Aber wie viele Kämpfe kann man im Leben kämpfen? Für wie viele Revolutionen brennen? Was bleibt nach all der Empörung? Die Flamme verbrennt mich, dachte Luise müde und hörte mit halbem Ohr zwei Männern zu, die eifrig und wortgewaltig über den Einmarsch der Franzosen diskutierten. Darüber, dass die Deutschen sich angeblich nicht an die Reparationsverpflichtungen gehalten und zu wenig Holz und Kohle geliefert hätten. »Das ist doch nur ein Vorwand!«, empörte sich der eine. »Sie wollten das Ruhrgebiet schon lange besetzen.«

      Die Schreie und Pfiffe übertönten die Schimpferei der Männer. In Luises Kopf mischte sich alles zu einem schier unerträglichen Lärm. Fest presste sie beide Hände auf die Ohren und wandte sich ruckartig um, um zu gehen. In ihr Zuhause, das keines war.

      3. Kapitel

      Überlingen, Bodensee, 12. Januar 1923

      »Ach, Sophie!« Seufzend legte Johanna den Kopf an die Schulter ihrer Tante, die ihr viel mehr Freundin als Tante war, vielleicht auch, weil Sophie nur wenige Jahre älter war als sie selbst. »Ich langweile mich. Ich schäme mich dafür, aber ich langweile mich ganz furchtbar.«

      Sophie strich Johanna über das dunkle Haar. Beide Frauen saßen dick eingepackt nebeneinander auf der Bank in der Küche, auf der sie schon so oft ihre Sorgen und Nöte miteinander geteilt hatten.

      »Aber du musst dich doch nicht schämen, meine Liebe«, sagte Sophie sanft. »Du hast Schwangersein schon immer als unerträglichen Zustand empfunden, das war bei Susanne und Robert auch so.« Sie deutete lächelnd auf Johannas gewölbten Leib. »Außerdem ist es ganz normal, dass du dich langweilst, nach allem, was du im Krieg erlebt hast. Wer kann schon von sich sagen, von den Russen gefangen genommen worden und schließlich aus Russland geflohen zu sein? Und an der Front warst du auch noch, im Lazarett. Kein Wunder, dass dir das Leben hier furchtbar eintönig erscheint. Es ist ja auch trostlos.«

      Sie umfasste den Raum mit einer Handbewegung. »Was haben wir denn? Jahrelanger Krieg, jahrelanges Sterben – und was hat es uns gebracht? Nichts als Verzicht und Entbehrungen. Es ist kalt, wir haben nichts zu essen, wir haben keine Hoffnung und alle hassen die Franzosen.«

      Sophie hatte sich regelrecht in Rage geredet und schluchzte nun trocken auf.

      »Sophie!« Erschrocken zog Johanna die Freundin an sich. »Der Franzosenhass macht dir zu schaffen, nicht wahr? Es geht dir gar nicht um all die Entbehrungen, die wir hinnehmen müssen.«

      Sophie nickte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, verbarg sie ihr Gesicht schutzsuchend an Johannas Schulter.

      »Du hoffst immer noch, ihn wiederzufinden?«

      Wieder nickte Sophie. Sie hatte wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges einen französischen Journalisten kennengelernt, der über den aufstrebenden Grafen Zeppelin berichten sollte und deshalb in Friedrichshafen weilte. Die beiden hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt und schnell beschlossen zu heiraten. Doch dann wurde der österreichische Thronfolger in Sarajewo ermordet, und die ganze Welt veränderte sich. In der Verzweiflung des Abschieds hatten Sophie und Pierre miteinander geschlafen, Raphael, Sophies heute siebenjähriger Sohn, war gezeugt worden, dann musste Pierre abreisen, und Sophie hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Sie hatte sich als Lazarettschwester an die Westfront gemeldet, um ihm nahe zu sein, wenn er auch auf der anderen Seite kämpfte und nun plötzlich Feind war. Nach dem Krieg wartete sie Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr darauf, dass er käme, um sie und seinen Sohn, von dem er freilich nichts wusste, zu holen. Doch Pierre kam nicht. Und als Sophie nach Frankreich fuhr um ihn zu suchen,

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