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das komplizierte Straßenmuster mit unbekannten – und mittlerweile fast unleserlichen – Namen zu verstehen.

      Sie war zu weit gegangen, hätte bereits vor vier Häuserblöcken abbiegen sollen. Ihre Orientierung war abhandengekommen und sie hatte nicht früh genug versucht, ihre Position festzumachen. Ihre Hände zitterten nun, als sie die Karte umdrehte und versuchte, ihren Weg zurückzuverfolgen. Wo musste sie hin? Links abbiegen, dann drei Häuserblocks weiter – nein, fünf – dann wieder nach links in das verwirrende Labyrinth aus Gassen und Straßen. Dort musste sie hin.

      Cassie faltete die Kartenstücke so gut sie konnte zusammen und steckte sie in ihre Tasche zurück, obwohl sie wusste, dass die Karte vermutlich keinen weiteren Einsatz überleben würde. Sie musste sich konzentrieren und die Panik unterdrücken, zu spät zu kommen. Was, wenn es bereits geschlossen hatte? Was, wenn ihre Reise in nichts als hoffnungsloser Enttäuschung enden würde?

      Dies war ihre einzige Chance, ihre Schwester Jacqui zu finden. Es war der einzige Hinweis, den sie hatte.

      Sie bemühte sich, ihre Route nicht zu vergessen und rannte fast die Straßen entlang. Als sie Mailands Fashionzentrum hinter sich ließ, wurden die Fußgängerwege schmäler und die Schaufenster weniger einschüchternd. Günstigere Produkte und Imitate wurden ausgestellt und die Preise sanken mit jedem Häuserblock. Aktionsschilder mit den Worten ‚Frühjahrsschlussverkauf‘ hingen hinter den heruntergekommenen Fenstern.

      Sie erkannte sich selbst in dem abgedunkelten Glas. Ihre Haut war bleich, ihre Wangen von der Kälte gerötet. Sie zog sich ihre limettengrüne Mütze über das schulterlange, kastanienbraune Haar. Hauptsächlich der Wärme wegen, aber auch, um die rebellischen Locken zu kontrollieren. In ihrem alten, blauen Mantel mit kaputtem Reißverschluss wirkte sie in der Modehauptstadt unglaublich fehl am Platz. Sie fühlte sich wie eine Außenseiterin inmitten der makellos gekleideten Einheimischen mit ihrem perfekt geschniegelten Haar, ihren teuren Stiefeln und ihrem angeborenen Sinn für Stil.

      Als Kinder hatten sie und Jacqui oft kaputte Second-Hand-Kleidung zur Schule getragen, die nicht richtig passte. Ihr verwitweter Vater hatte darauf bestanden, dass es kein Geld gab, um etwas Besseres zu kaufen. Cassie hatte ihr Schicksal williger akzeptiert als Jacqui, die es gehasst hatte, schäbig und arm auszusehen.

      Es machte Sinn, dass ihre Schwester von dieser Fashion-Metropole angezogen worden war, wo jedes Kleidungsstück hier doch trendy, neu und wunderschön war.

      Während sie nach Atem rang, sah Cassie, dass ihr der Name der Straße vor ihr bekannt vorkam.

      Es war die Straße, nach der sie gesucht hatte. Jetzt musste sie lediglich den kleinen Laden finden.

      Er hieß Cartolería, sie wusste aber nicht, ob das der tatsächliche Name oder eine Beschreibung war. Bei ihrem Telefonat mit der Angestellten war die Sprachbarriere ein großes Problem gewesen. Cassie hatte es geschafft, der immer ungeduldiger werdenden Frau zumindest den Straßennamen aus der Nase zu ziehen. Das war nicht einfach gewesen, schließlich waren deren Englischkenntnisse auf ‚wir schließen‘ beschränkt gewesen, was sie mehrere Male wiederholt, schließlich ‚addio‘ gekeift und aufgelegt hatte.

      Cassie hatte entschlossen, den Laden persönlich aufzusuchen.

      Eine Woche hatte sie gebraucht, um ihre Angelegenheiten zu klären und von Edinburgh nach Mailand zu fahren. Sie hatte wesentlich früher ankommen wollen, war aber auf dem Weg in die Stadt im Stau gestanden und hatte sich auf der Suche nach einem billigen Parkplatz mehrere Male verfahren. Ihr Navi hatte nicht richtig funktioniert und der Akku ihres Handys war fast leer. Zum Glück hatte sie daran gedacht, die Karte auszudrucken. Wann machten die Geschäfte hier zu? Um achtzehn Uhr? Später?

      Sie wurde immer nervöser, als im Geschäft vor ihr bereits das Schild in der Tür umgedreht und das Licht ausgeschaltet wurde.

      „Entschuldigung. Cartolería. Welche Richtung?“, fragte sie mit der Ahnung, dass jede Sekunde zählen könnte.

      Der Mann runzelte die Stirn, deutete die Straße herunter und murmelte etwas auf Italienisch, das sie nicht verstehen konnte. Zumindest hatte er sie davon abgehalten, in die falsche Richtung zu gehen.

      „Danke“, sagte sie.

      „Signorina!“, rief er ihr nach, aber Cassie hielt für niemanden an.

      Die Aufregung nahm ihr den Atem. Es bestand die Chance, wenn auch noch so klein, dass Jacqui tatsächlich in diesem Laden arbeitete. Cassie stellte sich vor, das Geschäft zu betreten und ihrer Schwester in die Augen zu sehen. Sie fragte sich, was Jacqui tun würde. Sie selbst würde vor Freude schreien und sie so fest umarmen wie sie konnte. Hoffentlich hätten sie dann die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Sie wollte herausfinden, was geschehen war und warum Jacqui sich so lange nicht gemeldet hatte.

      Und obwohl es sehr unwahrscheinlich war, konnte Cassie nicht anders, als zu träumen.

      Da war es. Sie sah das Schild, Cartolería, und rannte los. Der Laden musste offen sein, er musste es einfach. Das war ihre Chance, sich mit der einzigen Familie zu vereinen, die sie noch hatte.

      Sie rannte platschend über die nassen Pflastersteine und flocht sich durch die langsameren Fußgänger, die unter ihren monströsen Schirmen Schutz suchten.

      Dann blieb sie stehen und starrte ungläubig ins Schaufenster.

      Die Cartolería war geschlossen.

      Nicht nur für den Tag, sondern für immer.

      Die Fenster waren vernagelt, durch eine Lücke konnte sie die dunklen Räumlichkeiten sehen. Das ramponierte und schäbige Schild über der Tür war die einzige Erinnerung daran, was sich einst hinter den Schaufenstern befunden hatte.

      Cassie starrte in die trostlose Leere und verstand nun, dass sie die ungeduldige Angestellte missverstanden hatte, als sie vor einer Woche dort angerufen hatte. Die Frau hatte versucht, ihr mitzuteilen, dass der Laden für immer geschlossen wurde. Hätte sie das sofort realisiert, hätte sie zurückrufen, weitere Fragen stellen und aufdringlicher sein können.

      Stattdessen war sie viele hundert Kilometer gefahren, um vor der Sackgasse aller Sackgassen zu stehen.

      Ihre einzige Spur war verschwunden, zusammen mit ihren Hoffnungen und Träumen. Sie hatte die einzige Chance verloren, ihre Schwester wiederzufinden.

      KAPITEL ZWEI

      Cassie starrte in die leeren Ladenräume und fühlte, wie die Enttäuschung über sie hereinbrach. Sie wusste, dass sie sich auf den langen Rückweg zu ihrem Wagen begeben sollte, hinaus in die dunkle und feuchte Nacht, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden.

      Sich jetzt wegzudrehen war wie für immer aufzugeben und allein bei dem Gedanken fühlte sie, wie ihre Füße sich fester auf den Boden drückten. Sie konnte die Gewissheit nicht abschütteln, dass es hier noch immer etwas gab, das sie ihr irgendwie zu Jacqui führen würde.

      Sie sah sich um und sah, dass eines der Nachbargeschäfte – ein Café und Bistro – noch immer offen war. Vielleicht wusste dort jemand, wo der Besitzer der Cartolería hingegangen war und wo er oder sie sich nun aufhielt.

      Cassie betrat das Bistro, erleichtert, Schutz vor den Regenböen zu finden. Innen roch es köstlich nach Kaffee und Brot und sie erinnerte sich daran, heute noch nichts gegessen zu haben. Auf dem Holztresen stand stolz eine große Cappuccino-Maschine aus Chrom.

      Nur vier Tische fanden in dem Café Platz und sie waren alle besetzt. An der Bar jedoch war ein leerer Stuhl und sie setzte sich.

      Ein erschöpft wirkender Kellner eilte zu ihr.

      „Cosa prendi?“, fragte er.

      Cassie vermutete, dass er ihre Bestellung aufnehmen wollte.

      „Sorry, ich spreche kein Italienisch“, entschuldigte sie sich und hoffte, dass er sie verstehen würde. „Wissen Sie, wem der Laden nebenan gehört hat?“

      Der junge Mann zuckte mit den Schultern und wirkte verwirrt.

      „Ich kann Essen bringen?“, fragte er in brüchigem Englisch.

      Cassie begriff, dass die Sprachbarriere ihre Befragung beendet hatte, also scannte sie schnell

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