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Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке. Густав Майринк
Читать онлайн.Название Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке
Год выпуска 1917
isbn 978-5-9925-1445-2
Автор произведения Густав Майринк
Жанр Зарубежная классика
Серия Klassische Literatur (Каро)
Издательство КАРО
Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische Art, mit der sie die drei Herren ansah – die Gräfin Zahradka würdigte sie überhaupt keines Blickes – ließen darauf schließen, dass ihr die Umgebung in keiner Weise imponierte.
Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der höflichen Frage zuvor:
„Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es sich handelt?“
Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende, wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der Herren schloss sie mit richtigem weiblichem Instinkt sofort auf die wahre Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher, scharfer Gegenfragen:
„Dieser Mann dort“ – sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand – ist vorhin eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här’ ich, bei Ihnen? – Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff – ?“ – sie brachte das Wort nicht heraus – bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen, packte sie wieder das Grausen. – „Oder – oder, ich meine – hat er Fieber? – Ist er vielleicht krank?“ milderte sie den Ausdruck.
Die „böhmische Liesel“ zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren, überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, dass der Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.
„Er ist von dem Gartentor heruntergefallen“, mischte sich der kaiserliche Leibarzt schnell ein. „Wir glaubten anfangs, er sei tot, und haben deshalb nach Ihnen geschickt. – Wer und was er ist“ – fuhr er krampfhaft fort, um zu verhindern, dass sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, „tut ja nichts zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler. – Sie wissen doch, was das ist? – Nun, sehen Sie, ich hab’ mir gleich gedacht, dass Sie wissen, was das ist. – Ja. Hm. – Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel achtgeben, damit er nicht wieder ausbricht. – Vielleicht haben Sie die Güte, ihn jetzt wieder heimzubringen? Der Diener oder die Bosena kann Ihnen dabei behilflich sein. Hm. Ja. – Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?“
„Jaja. Nur hinaus mit ihm!“ wimmerte Elsenwanger. „O Gott, nur fort, nur fort.“
„Ich weiß bloß, dass er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler ist“, sagte die „böhmische Liesel“ ruhig. „Er geht des Nachts in den Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor. – Freilich, ob er“ – sie schüttelte den Kopf – „ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner herausgebracht. – Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine Mieter sind. – Ich bin nicht indiskret. – Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So kommen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, dass hier keine Gastwirtschaft ist?“
Sie ging zu dem Mondsüchtigen und fasste ihn an der Hand. —
Willenlos ließ er sich zur Tür führen.
Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Baron Bogumil war vollständig aus seinen Zügen gewichen; seine Gestalt schien wieder größer und straffer, sein Gang sicher und das normale Selbstbewusstsein halb und halb zurückgekehrt – trotzdem nahm er noch immer keine Notiz von den Anwesenden, als seien alle seine Sinne für die Außenwelt verschlossen wie die eines Hypnotisierten.
Aber auch der hochfahrende Ausdruck des ägyptischen Königs war aus seinem Gesicht ausgelöscht. Nur noch ein Schauspieler! – Eine Maske aus Fleisch und Haut, jeden Augenblick zu einer neuen, unbegreiflichen Veränderung gespannt – eine Maske, wie der Tod selbst sie tragen würde, wenn er beschlösse, sich unter die Lebenden zu mischen – „das Antlitz eines Wesens“ – fühlte der kaiserliche Leibarzt, den wiederum eine dumpfe Furcht, er müsse diesen Menschen schon einmal irgendwo gesehen haben, befallen hatte, „eines Wesens, das heute der und morgen ein völlig anderer sein kann – ein anderer, nicht nur für die Mitwelt, nein, auch für sich selbst – eine Leiche, die nicht verwest und der Träger ist für unsichtbare, im Weltraum umherirrende Einflüsse – ein Geschöpf, das nicht nur ‘Spiegel’ heißt, sondern vielleicht wirklich – einer ist.“
Die „böhmische Liesel“ hatte den Mondsüchtigen aus dem Zimmer gedrängt, und der kaiserliche Leibarzt benützte die Gelegenheit, ihr zuzuflüstern:
„Geh Sie jetzt, Lisinka; ich werd’ Sie morgen aufsuchen. – Aber sprech sie mit niemand drüber! – Ich muss Näheres über diesen Zrcadlo erfahren.“
Dann blieb er noch eine Weile zwischen Tür und Angel stehen und horchte die Treppe hinab, ob die beiden wohl miteinander sprechen würden, aber das einzige, was er hören konnte, waren immer die gleichen beruhigenden Worte des Frauenzimmers: „Kommen Sie, kommen Sie, Pane Zrcadlo! Sie sehen doch, es ist kein Gasthaus hier!“ —
Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass die Herrschaften bereits ins Nebenzimmer gegangen waren, sich am Spieltisch niedergesetzt hatten und auf ihn warteten.
An den blassen, aufgeregten Gesichtern seiner Freunde sah er, dass ihre Gedanken wahrlich nicht bei den Karten weilten und dass es wohl nur ein herrischer Befehl der willensstarken alten Dame gewesen war, der sie gezwungen hatte, ihre gewohnheitsmäßige abendliche Zerstreuung aufzunehmen, als sei nicht das geringste geschehen.
„Das wird heute ein konfuser Whist werden“, dachte er bei sich, ließ sich aber nichts merken und nahm nach einer leichten, vogelartigen Verbeugung der Gräfin gegenüber Platz, die mit nervös zuckenden Händen die Blätter verteilte.
Die neue Welt
„Wie die Damoklesschwerter wären seit Menschengedenken die ‘Flugbeile’, die alle kaiserliche Leibärzte gewesen waren – über Böhmens sämtlichen gekrönten Häuptern gehangen, bereit, unverzüglich auf ihre Opfer niederzufallen, sowie sich bei diesen auch nur die geringsten Anzeichen einer Krankheit zeigen wollten.“ – war ein Sprichwort, das, auf dem Hradschin in Adelskreisen gang und gäbe, eine gewisse Bestätigung darin zu finden schien, dass mit dem Hinscheiden der Kaiserinwitwe Maria Anna tatsächlich auch das Geschlecht der Flugbeile in seinem letzten Sprossen, dem Hagestolz Thaddäus Flugbeil, genannt der Pinguin, dem Erlöschen geweiht war.
Das Junggesellenleben des Herrn kaiserlichen Leibarztes, genau geregelt wie der Gang einer Uhr, hatte durch das nächtliche Abenteuer mit dem Schlafwandler Zrcadlo eine unliebsame Störung erlitten.
Allerlei Traumbilder waren durch seinen Schlummer geschritten, und schließlich hatte sich darin sogar der Schatten von schwülen Erinnerungen aus der Jugendzeit verirrt, in denen die Reize der „böhmischen Liesel“ – natürlich, als diese noch schön und begehrenswert gewesen – eine nicht unwesentliche Rolle spielten.
Ein neckisches, konfuses Gegaukel von Phantasien, in dem das ungewohnte Gefühl, er halte einen Bergstock in der Hand, gewissermaßen den Glanzpunkt bildete, weckte ihn schließlich zu ungebührlich früher Stunde.
Jedes Frühjahr, genau am 1. Juni, pflegte der Herr kaiserliche Leibarzt zur Kur nach Karlsbad zu fahren und zu diesem Zwecke, da er die Eisenbahn verabscheute, die er für eine jüdische Einrichtung hielt, eine Droschke zu benützen.
Wenn Karlitschek, so hieß der isabellfarbige Klepper, der den Wagen ziehen durfte, den eindringlichen Weisungen seines alten, rotbewesteten Kutschers gemäß, den fünf Kilometer entfernten Prager Vorort Holleschowitz erreicht hatte, wurde jedesmal die erste Nachtrast gemacht und am nächsten Tag die dreiwöchentliche Fahrt in längeren oder kürzeren Etappen, je nachdem Karlitschek, das wackre Ross, gelaunt war, fortgesetzt – in Karlsbad angelangt, konnte sich’s dann bis zur Rückreise an Hafer dick und rund fressen,