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Читать онлайн.Josephus
Der Neue Tag, 1.6.1919
SCHUHRIEMEN, BITTE!
Sinnbild und Überrest einer großen Zeit, durch Teisingermethoden aus Alltagsmaterial schnellstens hergestelltes Heldentum, mit moderner Prothesenkonstruktion neu angelegtes und repariertes Ebenbild Gottes, aufgestellt an der Straßenecke, wo Kriegsgewinn und Jetzt sich kreuzen, schwingt ein Etwas von einem Menschen in der durch einen gutmütigen oder boshaften Zufall nicht auf dem Felde der Ehre verbliebenen Rechten einen Bund Schnürsenkel. Statt auf Beinen, die andere Schnürsenkelverkäufer außer der Bronzenen auch noch nach Hause gebracht haben, steht dieser auf zwei hosenumschlotterten Prothesen. Mit der Leidenschaft jener Verzweiflung, der man es ansieht, daß sie ein Kind der Wiener Invalidenfürsorge ist, schwingt er sein Bund über den Häuptern arbeits- und beschäftigungsloser Passanten, schwingt sie siegreich, die schwarze Fahne des Elends. Schmettert immer wieder, immer wieder sein: Schuhriemen, bitte! In die Menge, als müßte er diese zum Sturm anführen. Seine Schuhriemen sind unverfälschter Papierspagat – sonst hätte er sich schon längst aufgeknüpft. Von frühem Morgen bis in die Nacht hinein kann man meinen Schnürsenkelverkäufer sehen. Sein Bund bleibt immer gleich groß, kein Mensch kauft Schnürsenkel aus Papierspagat. Aber unermüdlich schreit und fuchtelt dort an der Ecke das Fragment eines Menschen herum, flackernden Hunger in der Miene, Drohung und Gebet in der Stimme. Ist gar kein Schnürsenkelverkäufer mehr, sondern Mahnbild und Prophet. Sein Schrei wird überfahren vom Gekreisch der um die Ecke biegenden Elektrischen, seine Handbewegung weggewischt von der Geste des Profitgeistes. Um ihn herum feilscht Welt, Weib und Gewinn, linkswalzt Wien, die Stadt des Blaufuchses und des Kriegsblinden …
Der General
Täglich um die Morgenstunde, zu der ein Pfeifendeckel zur Salzsäule erstarrte: Exzellenz, ich melde gehorsamst …, geht der General die Straße entlang, frisch rasiert und backenbartgepflegt. In seinem Gang militärische Knappheit und Pseudozielbewußtsein, in seiner Haltung inhaltslose Dressur. Sein Auge noch so blitzblau wie damals, als er vor dem Feinde und zwischen den beiden eine Brigade stand. Bemüht, in die Zukunft zu sehen, sieht er Vergangenheit. Vergangenheit mit Marschmusik, Donnerhall, Prinz-Eugen-Brücken, Gehorsam und Sklavensinn. Wenn ein Soldat an dem General vorbeikommt, bemüht sich der Alte, nicht zu sehen. Er will nachsichtig sein und drückt ein Auge zu. Aber dann ist Bitterkeit, Leere, gähnender Weltraum, Grenze der Vernunft. Er war General, weil sie ihn Exzellenz nannten. Er war General im Gefüge der Brigade. Er war »komplett«, als ihn die anderen grüßten. Er war nie Individuum. Immer ein Bestandteil, wie ein Knopf, ein Kolbenhals, ein Tornister, eine Wasserjacke. Er fand seine Ergänzung im Gehorsam der anderen. Jetzt ist er Überrest, Fragment, Brigadier oder Brigade, Stratege ohne Dienstreglement, Herr ohne Diener. Aber Herr noch immer, mit der Gloriole einer tragischen Ironie um die Generalskappe, standesbewußt ohne Stand und ehrenhaft ohne Kodex …
DIE GALGENFRIST
Als ich eines Abends, wie es meine Gewohnheit ist, pünktlich und höchst loyal zehn Minuten vor 9 Uhr vor meinem Haustor ankam, war es – offen. Die für 9 Uhr angesetzt gewesene Haustorsperre hatte auf meinen Tugendwächter, so sich »Hausmeister« nennt, einen so vortrefflichen Eindruck gemacht, daß er, der typische Repräsentant altösterreichisch-gemütlichen Konservatismus, der trotz Umwälzungen und Götterdämmerungen christlichsozial und konservativ gesinnt geblieben war, angefangen hatte, nicht nur mit der Zeit zu gehen, sondern auch ihr vorauszueilen. Unter der Devise: »Zeit ist Sperrsechserl« hatte er schon um ¼ 9 Uhr das Haustor geschlossen und und Parteien, die zwischen ¼ 9 und 9 Uhr kamen, ganz einfach warten lassen, bis es neun geschlagen hatte und kein Einwand mehr möglich war. Man war eben erst da, nachdem man seine Anwesenheit vom Herrn Hausmeister bestätigt erhalten hatte, zahlte seinen Obolus und schwamm in den Hades seiner gaslichterdrosselten Behausung. So kam es mitunter vor, daß sich einige Mietsparteien vor dem Haustore angesammelt hatten und daß ich mich anstellen mußte, um schlafen gehen zu können. Einmal hatte ich es zwar versucht, einen Haustorschlüssel zu bekommen. Ich ging zum Herrn Inspektor und sprach: Herr Inspektor, halten zu Gnaden, da wir schon einmal in einer freien Republik schlafen zu gehn gezwungen sind, bitte ich, mir den Haustorschlüssel zu meiner persönlichen Freiheit gegen ein angemessenes Entgelt und Trinkgeld ausfolgen lassen zu wollen. – Aber der Herr Inspektor erschrak vor dem Worte: persönliche Freiheit und verweigerte mir den Schlüssel. Also gewöhnte ich es mir an, zehn Minuten vor neun Uhr nach Hause zu kommen, um erst fünf Minuten nach neun nach Hause kommen zu können …
An jenem Abend aber, da ich das Haustor offen fand, war ich in arger Verlegenheit. Dem Hausmeister konnte ein Unglück passiert sein. Oder die persönliche Freiheit war in der deutschösterreichischen Republik tatsächlich eingeführt worden. Oder der ganze Magistrat ist meschugge. Oder es sitzen schon Bolschewisten im Gemeinderat. Oder das Haus, in dem ich wohne, ist sozialisiert. Oder das Schloß ist kaputt und funktioniert nicht. Ich zog also mein Sperrsechserl, ging in die Wohnung des Hausbesorgers und hub an: Werter Herr Hausmeister, ich bitte sehr um Verzeihung, Sie dürften sich heute geirrt haben, da ist Ihr Sperrsechserl. »Na« – sagte der Gewaltige – »mir ham uns net geirrt. Wir sperren scho um zehne!«
Was war geschehen? Was hatte den Hausmeister zu der Gewährung einer Galgenfrist von einer Stunde bewogen? Hatte ihn ein Hauch der neuen Zeit angeblasen?
Ich komme jedenfalls seit damals erst um – halb elf Uhr nach Hause. Die Mietsparteien stehen in langen Ketten vor dem Hause. Ein Wachmann sieht auf Ordnung in den Reihen der Angestellten. Punkt zehn Uhr beginnt der Einlaß. Denn seit die Haustorsperre für zehn Uhr festgesetzt ist, sperrt mein Hausmeister, immer noch der Zeit voranfliegend und seine eben erwähnte Devise beibehaltend, erst um – neun Uhr …
Josephus
Der Neue Tag, 15.6.1919
BARRIKADEN
Nein, sie stammen wahrlich nicht aus der Zeit der Revolutionen. Sie sind nicht Anzeichen eines aufgeregten, sondern im Gegenteil: eines gemütlichen Wien. Sie sind nicht Zweck und Ziel einer Strömung, sondern Grund und Ursache einer Untugend. Aber was auch beim Anblick dieser Barrikaden so empört, ist eben der Umstand, daß sie der Ausdruck jener Zwecklosigkeit sind, die die Existenz des Winters ausmacht und die, aufgeweicht in einem Viertelliter Heurigen, als sogenannte »Gemütlichkeit« von Volkssängern und Feuilletonisten wiedergekäut und ausgespuckt wird. Ist eben jene Schlamperei, die nicht der Fehler der alten österreichisch-ungarischen Monarchie war, sondern die Tugend dieses unseres Deutschösterreich, daß diese seine Tugend allen Teilstaaten aufoktroyiert. Und wenn auch tausendmal erklärt wird: Deutschösterreich sei ein funkelnagelneuer Staat, der mit dem alten Reiche nichts zu tun habe, so verweise ich dringend und unerbittlich auf jene uralte Bretterverschalung des neuen Boltzmann-Instituts in der Währingerstraße, auf jene Bretterverzierung, die jedem Einsichtigen beweisen muß, daß wir zwar ein funkelnagelneuer Staat geworden, aber mit alten k.k. Brettern jämmerlich geflickt sind.
Wozu