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Frau Finch regelmäßig jeden Tag eine Stunde verlor und daß es ihr niemals unter irgend welchen Umständen gelang; diese verlorene halbe Stunde wieder einzuholen.

      »Ich begreife, Frau Finch. Die Sorge für eine zahlreiche Familie —«.

      »Ja, das ist es gerade!« (eine Lieblingsphrase von Frau Finch). »Zuerst kommt Finch; er steht früh auf und arbeitet im Garten. Dann kommt das Waschen – der Kinder und die schreckliche Wirthschaft in der Küche Und Finch kommt herein, wenn es ihm beliebt, und verlangt sein Frühstück. Und natürlich kann ich das Baby nicht verlassen und eine halbe Stunde geht Einem dabei so leicht verloren, daß ich nicht weiß, wie ich sie wieder einholen soll.« In diesem Augenblick fing das Baby an durch gewisse Anzeichen zu erkennen zu geben, daß es mehr mütterliche Nahrung zu sich genommen habe, als sein kindlicher Magen gut vertragen konnte. Ich hielt den Roman, während Frau Finch ihr Taschentuch erst in ihrer Schlafrockstasche, dann hier und dort überall im Zimmer suchte.

      In diesem kritischen Augenblicke wurde an die Thür geklopft. Es erschien eine ältliche Frau, welche einen sehr wohlthuenden Contrast zu den Mitgliedern des Hauses bildete, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte. Sie war sauber gekleidet und begrüßte mich mit der höflichen Ruhe eines civilisirten Wesens.

      »Verzeihen Sie, Madame, meine junge Herrin hat erst eben von Ihrer Ankunft gehört. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?«

      Ich wandte mich wieder an Frau Finch. Sie hatte ihr Tuch gefunden und hatte die Folgen ihrer Befeuchtung beseitigt und ihr Baby wieder in Ordnung gebracht. Ich gab ihr mit ehrerbietiger Miene den Roman wieder.

      »Ich danke Ihnen,« sagte Frau Finch .

      »Ich finde, daß Romane mein Gemüth beruhigen. Lesen Sie auch Romane? Erinnern Sie mich daran, ich will Ihnen morgen diesen Roman leihen.«

      Ich dankte für diese Freundlichkeit und verließ das Zimmer. An der Thür wandte ich mich noch einmal um, um die Frau vom Hause beim Hinausgehen zu begrüßen. Frau Finch spazierte schon wieder mit dem Baby in der einen, dem Roman in der anderen Hand, in ihrem nachschleppenden Dimiti-Schlafrock im Zimmer auf und ab.

      Wir stiegen die Treppe hinauf und betraten einen kahlen geweißten Vorplatz mit grau gemalten Thüren, die wie ich annahm, zu den Schlafzimmern des Hauses führten. Jede dieser Thüren öffnete sich als wir daran vorbeikamen; aus jeder guckten Kinder hervor, die mich ansahen und ankreischten und dann die Thür wieder zuschlugen. »Wie viele Kinder hat die jetzige Frau Finch?« fragte ich. Die adrette ältliche Frau wurde durch diese Frage veranlaßt still zu stehen und nach zudenken. »Mit dem Baby und zwei Paar Zwillingen und einem etwas schwachsinnigen Siebenmonatskinde sind es im Ganzen vierzehn, Madame.« Als ich das hörte, empfand ich, trotz meiner Ueberzeugung, daß Priester, Könige und Kapitalisten die Feinde der Menschheit sind, ein gewisses Interesse an dem ehrwürdigen Finch. Hatte er nie gewünscht ein Priester der römisch-katholischen Kirche zu sein, dem ein gütiges Verbot das Heirathen unmöglich machte? Während mir diese Frage durch den Kopf ging, nahm meine Begleiterin einen Schlüssel zur Hand und öffnete damit eine schwere eichene Thür am andern Ende des Corridors. »Wir müssen die Thüren verschlossen halten, Madame,« rief sie, »sonst würden die Kinder den ganzen Tag bei uns ein und auslaufen.«

      Ich gestehe, daß ich nach dem, was ich bis jetzt von den Kindern gesehen hatte, auf die geöffnete Thür mit einem Gefahr der Dankbarkeit und Achtung blickte Wir bogen um eine Ecke und befanden uns auf dem gewölbten Corridor des älteren Theils des Hauses. Die auf der einen Seite in tiefen Nischen befindlichen Fenster gingen auf den Garten hinaus; jede Nische war mit Topfgewächsen ausgefüllt. Die gegenüberliegende Wand war mit hellen Vorhängen von buntem Kattun heiter decorirt. Die Thüren waren milchweiß mit vergoldeten Rahmungen Der hellgemusterten Matte unter unsern Füßen sah ich ihren südamerikanischen Ursprung sofort an. Der Plafond war von einem zarten Blaßblau mit Borten von Blumengewinden. Nirgends war auf dem ganzen Corridor auch nur das kleinste dunkle Fleckchen zu erblicken. Am unteren Ende des Corridors stand eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt, die sich über die Blumen in der Fensternische beugte. Das war das blinde Mädchen, deren dunkle Tage ich zu erheitern gekommen war. Die Bewohner der zerstreut liegenden Dörfer der Umgegend bekundeten ihr Mitgefühl für das blinde Mädchen, indem sie sie stets »das arme Fräulein Finch« nannten. Ich kann sie mir nur unter ihrem hübschen Vornamen vorstellen Für mich ist sie, so oft meine Erinnerung bei ihr verweilt, »Lucilla«. So will ich sie denn auch hier Lucilla nennen. Als mein Blick zum ersten Mal auf ihr ruhte, war sie damit beschäftigt, die vertrockneten Blätter von ihren Blumen abzulesen. Ihr feines Ohr hatte den ihr fremden Klang meiner Fußtritte schon lange, bevor ich dahin gelangte, wo sie stand, bemerkt. Sie richtete sich auf und kam mir rasch entgegen; auf ihren Wangen zeigte sich eine leichte Röthe, die aber alsbald wieder verschwand. Ich hatte in früheren Jahren einmal die Dresdner Bildergallerie besucht. Je näher Lucilla auf mich zutrat, desto lebhafter wurde ich an die Perle jener Sammlung »die Sixtinische Madonna« erinnert. Die schöne breite Stirn, die eigenthümliche Fülle des Fleisches zwischen Augenbrauen und Augenlidern, die zarten Umrisse des unteren Theils des Gesichts, die feingeschnittenen Lippen, die Farbe der Haut und des Haares, Alles erinnerte in ganz frappanter Weise an die liebliche Gestalt des Dresdener Bildes. Der Theil des Gesichts aber, bei dem die Aehnlichkeit in trauriger Weise aufhörte, waren die Augen. Die göttlich schönen Augen der Raphael’schen Madonna fehlten ihrem lebendigen Ebenbilde. Es war nichts Mißgestaltetes, nichts, wovor man hätte zurückschrecken können, an meiner blinden Lucilla. Die armen trüben, blinden Augen hatten einen matten, starren, ausdruckslosen Blick – das war Alles. Ueber ihnen, unter ihnen, neben ihnen bis an die Ränder ihrer Augenlider war Alles Schönheit, Leben. In ihnen aber – war es todt! Von diesem einzigen Mangel abgesehen, war mir nie, ein reizenderes Geschöpf vorgekommen. Sonst war nichts an ihrer Erscheinung mangelhaft. Sie hatte die angenehme Höhe, die wohlproportionirte Gestalt und die Länge der Gliedmaßen, welche allen Bewegungen eines Weibes ohne Weiteres Grazie verleihen. Ihre Stimme war entzückend klar, heiter, sympathisch. Diese Stimme und ihr Lächeln, das der Schönheit ihres Mundes noch einen besonderen Reiz verlieh, gewannen mein Herz, noch ehe sie mir nahe genug gekommen war, um ihre Hand in die meinige zu legen.

      »O, liebes Kind,« sagte ich in meiner ungenirten Weise, »wie freue ich mich, Sie zu sehen.«

      Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, so hätte ich mir wegen der brüsten Worte, mit denen ich sie sofort an, ihre Blindheit erinnerte, die Zunge ausreißen mögen. Ich fühlte mich sehr erleichtert, als sie durch nichts zu erkennen gab, daß sie meinen Verstoß so wie ich selbst empfunden habe.

      »Darf ich Sie aus meine Art sehen?« fragte sie mit sanfter Stimme, indem sie ihre hübsche weiße Hand empor hielt. »Darf ich ihr Gesicht berühren?«

      Ich setzte mich ohne weiteres auf die Fensterbank. Ihre weichen rosigen Fingerspitzen schienen im Nu mein ganzes Gesicht zu betasten. Zu drei verschiedenen Malen ließ sie ihre Hand rasch über mein Gesicht fahren, während sich auf ihrem eigenen Gesichte gleichzeitig die gespannteste Aufmerksamkeit auf das, was sie that, malte.

      »Reden Sie wieder!« sagte sie plötzlich, während sie ihre Hand noch vor meinem Gesichte hielt.

      Ich fing an etwas zu sagen, aber sie verschloß mir den Mund alsbald mit einem Kuß, indem sie vergnügt ausrief: »Nicht weiter. Ihre Stimme sagt meinen Ohren, was Ihr Gesicht meinen Fingern sagt. Ich weiß, Sie werden mir gefallen. Kommen Sie und sehen Sie sich die Zimmer an, die wir zusammen bewohnen werden.«

      Als ich aufstand, schlang sie ihren Arm um meine Taille, zog ihn aber sogleich wieder zurück und machte eine ungeduldige Bewegung mit den Fingern, als ob sie dieselben verletzt habe.

      »Haben Sie sich an einer Nadel gestochen?« fragte ich.

      »Nein, nein, was für eine Farbe hat das Kleid, das sie tragen?«

      »Dunkelviolett.«

      »O, das wußte ich; bitte, tragen Sie keine dunklen Farben. Ich habe in meiner Blindheit einen wahren Abscheu gegen Alles, was dunkel ist. Bitte, liebe Madame Pratolungo, tragen Sie mir zu Gefallen hübsche helle Farben!«

      Dabei umschlang sie wieder liebkosend, dieses Mal jedoch – meinen Nacken, wo ihre Hand auf meinem leinenen Kragen ruhen konnte.

      »Sie ziehen sich vor Tisch anders an, nicht wahr?« flüsterte

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