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wenn das, was er für real hielt, in Wirklichkeit irgendwie überhaupt nicht real war?

      Nein, sagte er unerbittlich zu sich selbst. Es waren seine Töchter. Er war bei ihrer Geburt dabei gewesen. Er hatte sie aufgezogen. Keine dieser bizarren, aufdringlichen Visionen widersprach dem. Und er musste einen Weg finden, Kontakt mit ihnen herzustellen, um herauszufinden, ob alles in Ordnung war. Dies war seine oberste Priorität. Er konnte auf gar keinen Fall das Wegwerfhandy benutzen, um mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen; er wusste nicht, ob die Anrufe zurückverfolgt wurden und wer eventuell zuhörte.

      Plötzlich erinnerte er sich an den Zettel mit der Telefonnummer darauf. Er stand auf und zog ihn aus seiner Tasche. Das blutbespritzte Papier starrte ihn an. Er wusste nicht, worum es hier ging oder warum die Männer gedacht hatten, er sei jemand anderes als der, der er sagte, aber er fühlte einen Hauch von Dringlichkeit unter der Oberfläche seines Unterbewusstseins, etwas, das ihm sagte, dass er jetzt ungewollt in etwas involviert war, dass viel, viel größer war als er selbst.

      Mit zitternden Händen wählte er die Nummer auf dem Wegwerfhandy.

      Eine raue Männerstimme antwortete nach dem zweiten Klingelton. „Ist es erledigt?“, fragte er auf Arabisch.

      „Ja“, antwortete Reid. Er versuchte, seine Stimme so gut wie möglich zu verstellen und seinen Akzent zu verstecken.

      „Haben Sie die Informationen?“

      „Hmm.“

      Für einen langen Moment war die Stimme still. Reids Herz klopfte laut in seiner Brust. Hatten sie bemerkt, dass er nicht der Vernehmer war?

      „Rue de Stalingrad 187“, sagte der Mann schließlich. „Acht Uhr.“ Dann legte er auf.

      Reid beendete den Anruf und atmete tief durch. Rue de Stalingrad?, dachte er. In Frankreich?

      Er war sich nicht sicher, was er jetzt tun würde. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte er eine Mauer durchbrochen und eine ganz andere Welt auf der anderen Seite entdeckt. Er konnte nicht nach Hause zurückkehren, ohne zu wissen, was mit ihm geschah. Selbst wenn er es versuchte, wie lange würde es dauern, bis sie ihn und die Mädchen wiederfänden? Er hatte nur eine Spur. Er musste ihr folgen.

      Er verließ das kleine Haus und fand sich in einer engen Gasse wieder, die auf eine Rue Marceau führte. Sofort wusste er, wo er war – in einem Vorort von Paris, nur wenige Blöcke von der Seine entfernt. Fast musste er lachen. Er hatte gedacht, er würde auf die vom Krieg zerstörten Straßen einer nahöstlichen Stadt hinaustreten. Stattdessen befand er sich auf einem Boulevard, gesäumt von Geschäften und Reihenhäusern und unwissenden Passanten, die trotz der kalten Februarbrise ihren gemütlichen Nachmittag genossen.

      Er steckte die Pistole in den Hosenbund seiner Jeans und trat hinaus auf die Straße, mischte sich unter die Menschenmenge und versuchte, wegen seines blutbefleckten Hemdes, der Bandagen und der offensichtlichen Prellungen nicht aufzufallen. Er schlang seine Arme eng um sich – er würde neue Kleidung brauchen, eine Jacke, etwas Wärmeres als nur sein Hemd. Er musste außerdem sicherstellen, dass seine Mädchen in Sicherheit waren.

      Danach würde er sich ein paar Antworten holen.

      KAPITEL VIER

      Durch die Straßen von Paris zu laufen, fühlte sich wie ein Traum an – nur nicht so, wie man es erwarten oder sich wünschen würde. Reid erreichte die Kreuzung der Rue de Berri und der Avenue des Champs-Élysées, die trotz des kühlen Wetters wie immer mit Touristen wimmelte. Der Arc de Triomphe war ein paar Häuserblocks entfernt im Nordwesten zu sehen. Er war das Herzstück des Charles de Gaulle Platzes, aber Reid nahm seine Großartigkeit nicht wahr. Eine neue Vision blitzte in seinen Gedanken auf.

      Ich war hier schon einmal. Ich habe an genau dieser Stelle gestanden und auf das Straßenschild geschaut. In Jeans und einer schwarzen Motorradjacke, die Farben der Welt von einer polarisierten Sonnenbrille abgeschwächt …

      Er ging nach rechts. Er war sich nicht sicher, was er in dieser Richtung finden würde, aber er hatte den unheimlichen Verdacht, dass er es erkennen würde, wenn er es sah. Es war eine unglaublich bizarre Empfindung, nicht zu wissen, wohin er ging, bis er dort ankam.

      Es fühlte sich so an, als ob jeder neue Anblick den Hauch einer vagen Erinnerung hervorrief, jede unabhängig von der nächsten, aber doch immer irgendwie übereinstimmend. Er wusste, dass das Café an der Ecke die besten Pasteten servierte, die er je probiert hatte. Bei dem süßen Duft der Konditorei auf der anderen Straßenseite lief ihm das Wasser im Mund zusammen, weil er an herzhafte Schweineohren dachte. Er hatte noch nie zuvor Schweineohren gegessen. Oder doch?

      Selbst Geräusche erschütterten ihn. Passanten unterhielten sich miteinander, während sie den Boulevard entlangschlenderten. Gelegentlich richteten sich einige Blicke auf sein verbundenes, verletztes Gesicht.

      „Ich würde wirklich nicht den anderen Typen sehen wollen“, murmelte ein junger Franzose zu seiner Freundin. Beide kicherten.

      In Ordnung, keine Panik, dachte Reid.

      Anscheinend kannst du Arabisch und Französisch. Die einzige andere Sprache die Professor Lawson sprach, war Deutsch und ein paar Sätze auf Spanisch.

      Es gab noch etwas anderes, etwas das schwerer zu definieren war. Hinter seinen rasselnden Nerven und dem Instinkt zu rennen, nach Hause zu gehen, sich irgendwo zu verstecken, hinter all dem gab es einen kalten, stählernen Rückhalt. Es war, als hätte er die schwere Hand eines älteren Bruders auf seiner Schulter, eine Stimme in seinem Hinterkopf, die zu ihm sagte: Entspanne dich. Du weißt das alles.

      Während die Stimme in seinem Hinterkopf ihn leise führte, standen seine Mädchen und ihre Sicherheit im Vordergrund. Wo waren sie? Woran haben sie gerade gedacht? Was würde es für sie bedeuten, würden sie beide Eltern verlieren?

      Er hatte nicht einen Moment aufgehört, an sie zu denken. Selbst als er in dem dreckigen Kellergefängnis geschlagen wurde, während diese Visionen in seine Gedanken eindrangen, hatte er immer an die Mädchen gedacht – und ganz besonders an die letzte Frage. Was würde mit ihnen geschehen, wäre er dort in diesem Keller gestorben? Oder sollte er sterben, während er diese tollkühne Sache tat, die er nun vorhatte?

      Er musste sich versichern. Irgendwie musste er Kontakt aufnehmen. Aber zuerst brauchte er eine Jacke und das nicht nur, um sein blutbeflecktes Hemd zu verstecken. Das Februarwetter brachte es zu fast zehn Grad Celsius, war aber definitiv noch zu kalt, um nur in einem Hemd herumzulaufen. Der Boulevard bildete einen Windkanal und die Brise war steif. Er ging ins nächste Kleidergeschäft und wählte den ersten Mantel, der ihm ins Auge fiel – eine dunkelbraune Bomberjacke, Leder mit Fleece gefüttert. Seltsam, dachte er. Nie zuvor hätte er sich eine solche Jacke ausgesucht, er stand mehr auf Tweed und karierte Mode, aber er fühlte sich dazu hingezogen.

      Die Bomberjacke kostete zweihundertvierzig Euro. Egal; er hatte eine Tasche voller Geld. Er suchte sich auch noch ein neues Shirt aus, ein schiefergraues T-Shirt und dann eine neue Jeans, neue Socken und robuste braune Stiefel. Er brachte alle Artikel zur Kasse und bezahlte in bar.

      Auf einem der Geldscheine befand sich ein Fingerabdruck aus Blut. Der dünnlippige Verkäufer tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Ein blitzartiger Gedanke –

      Ein Typ betritt blutüberströmt eine Tankstelle. Er bezahlt sein Benzin und will gerade gehen. Der verwirrte Verkäufer ruft: „Hey, Mann, geht es dir gut?“ Der Typ lächelt. „Oh ja, mir geht es gut. Es ist nicht mein Blut.“

      Ich habe diesen Witz noch nie zuvor gehört.

      „Darf ich bitte Ihre Umkleidekabine benutzen?“, fragte Reid auf Französisch.

      Der Verkäufer deutete auf die Kabinen im hinteren Teil des Geschäfts. Während der gesamten Transaktion hatte er kein einziges Wort gesagt.

      Bevor er sich umzog, betrachtete sich Reid zum ersten Mal in einem sauberen Spiegel. Gott, er sah wirklich schrecklich aus. Sein rechtes Auge war stark angeschwollen und es zeigten sich Blutflecken auf den

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