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wäre das alles hier nicht passiert.«

      Ein bisschen enttäuscht war ich schon, aber was konnte ich noch erwarten. Ich hatte ihn beleidigt und vor den Kopf gestoßen. Dass er mich immer noch mitnahm, war vermutlich das höchste der Gefühle.

      Er fuhr schweigend zur Schule und schaute mich die ganze Fahrt über nicht an.

      Ein paar Mal war ich kurz davor, etwas zu sagen, doch jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, kamen keine Worte heraus. Stattdessen zwirbelte ich mein Haar zu einem Knoten und steckte es wieder am Hinterkopf fest.

      Wenn ich gedacht hatte, der Tag könnte nicht noch schlimmer werden, dann hatte ich mich gründlich geirrt.

      Vor der Schule herrschte das reinste Chaos, Schüler rannten durcheinander, Lehrer brüllten Anweisungen, versuchten die jüngeren Schüler zu beruhigen oder drängten sie in Gruppen zusammen.

      Einige versuchten mit dem Auto vom Parkplatz zu kommen, kamen aber nicht durch das Gedränge. Lautes, wütendes Hupen durchschnitt den übrigen Lärm, irgendwo sprang eine Autoalarmanlage an. Tatsächlich wirkte die ganze Aufregung wie die Apokalypse.

      Keiner schien uns wahrzunehmen, jeder war mit sich selbst beschäftigt.

      »Was ist hier los?«, fragte ich Grayson mit großen Augen.

      »Ich bin mir nicht ganz sicher, Clara. Hoffen wir, dass es nur eine Übung ist!«

      Etwas in seiner Stimme ließ meine Alarmglocken klingeln.

      »Was für eine Übung? Was soll das? Ist was passiert?«, meine Gedanken überschlugen sich.

      »Vor den Sommerferien hatten wir eine Tsunami-Evakuationsübung. Da sah es hier ähnlich aus. Aber da sind alle ruhig geblieben.«

      »Willst du damit sagen, dass …, dass …«, ich wagte es nicht, den Satz zu beenden.

      »Dass es keine Übung ist? Ja, ich glaube schon. Da vorne ist Mister Backman. Komm mit.«

      Er griff nach meiner Hand. Ich zuckte zusammen und hätte sie ihm gerne entrissen, aber er lief los und mir blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen. Wir schlängelten uns durch die aufgeregte Menge, hier und da wurde ich angerempelt, die Gefühle und die Aufregung der anderen schwappten auf mich über und erdrückten mich fast bis wir uns zu unserem Geschichtslehrer durchgedrängt hatten.

      »Mister Backman, was ist hier los? Ist das eine Übung?«, rief Grayson laut über den Lärm hinweg.

      »Eine Übung? Nein, Junge. Wir evakuieren die Schule. Hast du die Durchsage nicht gehört? Es besteht Tsunamigefahr. Nimm deine Freundin und verschwinde von hier. Lasst die Autos stehen und lauft zu Fuß den Hügel hoch. Los jetzt!« Er deutete mit der Hand auf den bewaldeten Hügel hinter der Schule.

      Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da. Was ich gerade gehört hatte, wollte einfach nicht in meinen Kopf passen. Tsunamigefahr? Ohne Witz? So was passierte doch nur in Büchern oder in Filmen. Aber doch nicht im echten Leben. Nicht hier, nicht in so einem unscheinbaren, kleinen Kaff wie Rockaway Beach.

      Grayson reagierte schneller, denn er packte erneut meine Hand und zog mich fort. Fort von der Schule, fort von der Gefahr. Ich folgte ihm wie betäubt, konnte keinen klaren Gedanken fassen und achtete kaum auf meine Füße. Alles schien unwirklich und surreal. Mir wurde schwindelig, immer wieder stolperte ich und wäre hingeflogen, wenn Grayson mich nicht festgehalten hätte. Irgendwie schaffte ich es an die Waldgrenze und dort klappte ich einfach zusammen. Das war genug Aufregung für einen Tag. Jetzt wollte ich nicht mehr, mein Körper kapitulierte und quittierte einfach den Dienst.

      »Clara, bitte. Steh auf. Wir müssen hier weg. Sofort!«

      Graysons Stimme war laut und eindringlich, aber das war mir egal. Sollte er doch alleine weitergehen und mich hier auf dem trockenen Waldboden liegen lassen. Ich konnte und wollte nicht mehr. Er murmelte etwas Unverständliches, dann bückte er sich und hob mich hoch. Bevor ich protestieren konnte, lief er los, den Hügel hinauf.

      Ich schloss die Augen und ließ es geschehen. Das hier war alles andere als angenehm, es war peinlich. Nach heute würde ich mich meilenweit von Grayson fernhalten und nie wieder mit ihm reden. Vermutlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, schließlich hatte ich mich erst bockig, dann total verrückt und dann wieder bockig verhalten und zu allem Überfluss entpuppte ich mich jetzt auch noch als komplette Versagerin. Nein, er würde sicher nicht protestieren, wenn ich auf Abstand ging.

      Wir erreichten die Lichtung oben auf dem Hügel, einzelne Gruppen hatten sich bereits gebildet und Lehrer gingen von Schüler zu Schüler. Es war unheimlich still, alle sprachen im Flüsterton oder schwiegen, jedem war die Angst ins Gesicht geschrieben. Ich schluckte, als mir klar wurde, dass sie sich sorgen um Familie oder Freunde machten und musste an Mom und Dan denken. Sogar an Delilah dachte ich, auch wenn die Sorge um sie kleiner war als die um Jenna und Megan. Ich schaute mich nach ihnen um und lief mit etwas Abstand hinter Grayson an den Grüppchen vorbei, konnte sie aber nirgends finden. Unruhe erfasste mich, der Gedanke, dass meinen Freunden etwas geschehen war, machte mich nervös. Vor allem, dass Jenna nicht zu sehen war. Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Bestimmt waren meine Sorgen unbegründet, aber das änderte nichts an dem stechenden Gefühl in meinem Herzen, das erst verschwinden würde, wenn ich sie sah.

      Dunkle Wolken zogen auf und verdeckten die Sonne, ein frischer Wind wehte plötzlich über die freie Fläche, fuhr durch meine Kleidung und ließ mich frösteln.

      Es ging mir etwas besser, immerhin konnte ich wieder selbstständig laufen und mich von Grayson wegdrehen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Mir wurde bewusst, dass ich mehrere Minuten zugelassen hatte, dass er mich berührte und mich sogar festhielt. Schaudernd zog ich die dünne Jacke enger um meinen Körper. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber ich wusste, dass da etwas war, zwischen ihm und mir. Ich hatte Vertrauen zu ihm gefasst und konnte nicht leugnen, dass ich mich sicherer fühlte, wenn er bei mir war. Ich verstand es selbst nicht. Noch nie hatte ich jemandem nach so kurzer Zeit ein solches Vertrauen entgegengebracht. Doch da war etwas, eine Verbindung. Irgendetwas, das mir ein gutes Gefühl gab. Feiner Nieselregen setzte ein, benetzte mein Gesicht und sickerte durch meine Klamotten. Binnen weniger Sekunden war ich durchnässt bis auf die Knochen und zog die Jackenärmel über meine klammen Finger. Gerade wollte ich mich zu Grayson drehen, um mich bei ihm zu bedanken, da tauchte Delilah neben uns auf und beschlagnahmte ihn. Tolles Timing.

      »Oh Grayson!«, rief sie und fiel ihm um den Hals. »Da bist du ja. Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich habe mir Sorgen gemacht! Die anderen stehen da drüben. Kommst du mit mir mit?«

      Sie streckte ihm die Hand entgegen. In ihren Augen glitzerten sogar Tränen und sie wirkte ehrlich besorgt, von mir nahm sie aber keine Notiz.

      »Ich geh schon, vielleicht finde ich Jenna oder Megan«, murmelte ich und wandte mich zum Gehen, aber Grayson hielt mich auf, er griff nach meiner Hand und zog mich zurück.

      »Bleib hier. Ich will nicht, dass dir was passiert.«

      Seine Worte überraschten mich. Sollte er nicht froh sein, mich loszuwerden?

      Delilahs Blick wanderte von Grayson zu mir und zurück, dann wurden ihre Augen groß und rund.

      Ihr Mund öffnete sich zu einem erstaunten »OH« aber kein Laut kam über ihre Lippen. Als sie meinen verlegenen Blick bemerkte, zog sich Zornesröte über ihre Wangen, sie sah mich definitiv als Konkurrenz. Das würde ihre Einstellung zu mir sicher nicht verbessern und unser angeschlagenes Verhältnis nur weiter schwächen.

      Auf den nächsten Zickenkrieg konnte ich eigentlich gut verzichten und ich verschränkte die Arme vor der Brust, innerlich darauf gefasst gleich fertiggemacht zu werden.

      Ich hatte mit allem gerechnet, aber sicher nicht mit ihrer Freundlichkeit, doch Delilah setzte ein Lächeln auf, das wohl nett sein sollte und legte einen Arm um meine Schultern.

      »Komm doch einfach mit rüber, dann können wir alle aufeinander aufpassen, falls einer ausrastet oder sich komisch benimmt.« Sie zwinkerte mir zu. »Außerdem kannst du meine Freunde kennenlernen, bevor wir morgen zusammen an den Strand fahren.«

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