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      Über dieses Buch

      Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

      Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Kleine Leute» aus Band 2 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

      Jo Siffert (1936–1971)

      Fritzli und das Boxen

      Bleiben Sie am Apparat, Madame Soleil wird Ihnen antworten

      Herr Engel in Seengen (Aargau) und seine Akkumulation

      Frau Arnold reist nach Amerika, 1912

      Die Aufhebung der Gegensätze im Schosse des Volkes

      Überwachen & Bestrafen (II)

      Der Garagefriedensbruch oder les mots et les choses

      4.12.79 alte Kirche Wollishofen

      Foto Roland Gretler

      Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

      Niklaus Meienberg

      Kleine Leute

      Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

      Limmat Verlag

      Zürich

      Jo Siffert (1936–1971)

      «Das Ganze ist das Wahre.»

      Georg Wilhelm Friedrich Hegel

      Siffert war ein Freiburger, Deutschfreiburger. Er hat sich als Freiburger gefühlt, war seiner Heimat zeitlebens verbunden, und heute, da er in die ewige Heimat abberufen worden ist, infolge Unglücksfalls, erkennt sich die «Berümbte Catholische Statt Fryburg» in ihrem Seppi wieder. Wer Siffert begreifen will, muss Freiburg kennen, mit allem Zubehör. Diese Stadt hat ihn produziert, und heute hängt er reproduziert in den Freiburger Spelunken, als Poster. Wir sind also gezwungen, zuerst ein Konterfei oder «Abconterfactur» von Freiburg zu skizzieren (wie es auf dem Freiburger Stadtplan aus dem 17. Jahrhundert heisst). Fribourg/Freiburg sampt seiner «Gelegenheit» (Umgebung), was uns bereits in den Spalten der «Freiburger Nachrichten» aufleuchtete. Der vorbildliche Seppi soll im Zusammenhang gesehen werden, eingebettet in seine Familie, sein Quartier, seine Schule, seine Klasse und Religion. Dann wird man sehen, warum er sich anders betten musste, als er ursprünglich lag, und warum es ihn auf allen Rennbahnen der Welt mit 300 und mehr Stundenkilometern im Kreis herumtrieb. Bis es in Brands Hatch dann an der falschen Stelle geradeausging, in der Kurve namens «Mike Hawthorn», und er mit den Rädern in der Luft zur Ruhe kam, am 24. Oktober 1971, weil die Schaltung klemmte. Bei der Abdankung kam das «Ave Verum» zur Aufführung.

      Wahrhaftige und Eigentliche Abconterfactur der Berümbten Catholischen Statt Fryburg im Üechtland sampt ihrer Gelegenheit

      Die Stadt Freiburg zerfällt in Unterstadt und Oberstadt. Aus der Oberstadt gelangt man mit einer Drahtseilbahn, dem Funiculaire, in die Unterstadt. Die Abwässer der Oberstadt füllen einen Behälter, welcher unter der Kabine angebracht ist, wodurch diese an Gewicht zunimmt und ihre Korrespondenzkabine in die Höhe zu ziehen vermag, sobald der Kabinenführer die Bremse lockert. In der Unterstadt werden die Abwässer entleert, und dadurch erfolgt eine solche Erleichterung, dass es dank der abermaligen Beschwerung der Schwesterkabine mühelos in die Höhe geht. Auf diese Weise lassen die barmherzigen Einwohner der Oberstadt die Mitbürger in der «basse ville» schon seit Jahrzehnten an ihren Exkrementen profitieren. Und diese Energiequelle gestattet einen bescheidenen Fahrpreis, dem schmalen Einkommen der Unterstädtler angepasst.

      In der «basse ville» hat man einen guten Blick auf den Turm der Kathedrale St. Nicolas, mit seinen Leitflossen eine Freiburger Variante der Weltraumraketen von Cape Kennedy. Der Blick aus der Unterstadt schweift auch hinauf an die Häuserzeile der Grand’Rue (Reichengasse), welche hart am Abgrund gebaut ist. Dort wohnten früher, und teils heute noch, die führenden Familien der Fribourgeoisie und hatten eine befriedigende Aussicht auf das Niedervolk der Unterstadt. Dieses Volk kann auch den Berg hinauf zur Loreto-Kapelle pilgern und von dort weiter zur Muttergottes von Bürglen/Bourguillon und dort seine Gebresten heilen lassen. Auch in der Kirche der Kapuzinerinnen von Montorge kann gebetet werden oder bei den Zisterzienserinnen in der Mageren Au, welche Hostien backen und vier Arten von Likör destillieren, oder in der Augustiner-Kirche oder der Johanniter-Kirche. Trinken kann die Bevölkerung im Soleil Blanc, Ours, Paon, Trois Rois, Cigogne, Tanneur, Tirlibaum, Fleur de Lys und so weiter. Und zwar einheimisches Bier aus der Brauerei Cardinal oder Beauregard. Der Name Fleur de Lys bringt die traditionell guten Beziehungen zwischen Freiburg und Frankreich zum Ausdruck, Frankreichs Bourbonen-Lilien im Wirtshausschild. Die Söldner aus Freiburg taten sich stets in französischen Diensten hervor. Als Ludwig XVI. schon längst nicht mehr auf seine einheimischen Soldaten zählen konnte, blieb ihm noch das Schweizergarderegiment, welches ihn im Juli 1792 vor seinem Volk schützte. Der Oberkommandierende war ein Freiburger, Graf Louis Augustin d’Affry, Grosskreuz des St. -Ludwig-Ordens, Ritter des Ordens vom Heiligen Geist, und drei der vier Bataillone wurden von Freiburgern geführt. Das Kanonenfutter kam aus den untern Schichten, die Kommandostellen waren von Adligen besetzt. Für die Unterprivilegierten von damals die gängige Art, sich ausbeuten zu lassen. Für die herrschenden Familien eine Möglichkeit, am französischen Hof das Regieren zu lernen und von königlichen Pensionen zu leben. Seit die Leichen der Freiburger Söldner nackt und verstümmelt auf den Pariser Plätzen gezeigt wurden, nach der Erstürmung des Tuilerienpalastes, spürt man in Freiburg Angst vor revolutionären Bewegungen in Frankreich. So erklärte die freiburgische Kantonsarchäologin Hanni Schwab dem «Blick»: «Was die Studenten in Frankreich gemacht haben, war einfach schlimm. Ich würde von der Regierung verlangen, dass sie abstellt, was in irgendeiner Form Schaden bringt, z.B. Unterrichtsstörung. Besonders, wenn von aussen gelenkt. Wenn die Störer nicht gutwillig zum Aufhören gebracht werden, muss Gewalt angewendet werden. Dazu haben wir Polizei. Und wozu haben wir die Armee?» Reaktionäre und Monarchisten haben schon immer in Freiburg Asyl gefunden, führende Terroristen der oas zur Zeit des Algerienkrieges, der in Frankreich als Kollaborateur verurteilte ehemalige Direktor der Nationalbibliothek (Faÿ) und neulich Hunderte von südvietnamischen Studenten, welche ihr Familienvermögen in die Schweiz transferieren und in Sportwagen anlegen. Ein Professor aus Nanterre ist als Lehrbeauftragter an der Universität installiert – in Freiburg kann er noch in aller Ruhe dozieren (Yves Bottineau).

      *

      Während die Oberschicht auf diese Weise ihren Kontakt mit dem reaktionären Teil Frankreichs über die Jahrhunderte hinweg pflegte, blieb dem arbeitenden Volk Freiburgs nach dem Absterben des Söldnerwesens nicht einmal die Möglichkeit, sich als Maschinenfutter verheizen zu lassen und dementsprechend ein neues Klassenbewusstsein zu entwickeln. Denn die herrschenden Familien lebten auch im 19. Jahrhundert weiterhin auf ihren Landgütern und in ihren Stadtpalais, verpachteten ihre Latifundien und bezogen Grundrente. Nur ganz wenige begriffen, dass Machtausübung in der Industriegesellschaft identisch war mit dem Besitz von Produktionsmitteln. Die seltenen Fabriken, welche sich etablierten, wurden meist von nichtfreiburgischem Kapital beherrscht. Industrie war dem Freiburger Patriziat schon deshalb nicht geheuer, weil es ein Proletariat erzeugt, welches ihrer Kontrolle entgleiten könnte. So wanderte die überschüssige Landbevölkerung aus, in industrialisierte Kantone, aber auch bis nach Brasilien, wo ein «Nova Friburgo» entstand. Die herrschende Minderheit von Patriziern und Aristokraten behauptete unterdessen ihre Macht dank drei konservativen Gewalten: den Zeitungen «Liberté» und «Freiburger Nachrichten»,

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