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und Wiesenalkoholiker!« Wunderbarer Ausdruck!

      Die beiden begannen zu fachsimpeln. Zwischen ihnen lag noch immer der Körper des toten Witschi. So wie er da lag, war die Wunde hinter dem Ohr nicht zu sehen. Und während Studer mit dem Italiener über einen Fall von Versicherungsbetrug diskutierte, der in der Fachliteratur Aufsehen erregt hatte (ein Mann hatte sich erschossen und den Selbstmord als Mord kamoufliert), fragte Studer plötzlich:

      »So etwas wäre hier nicht möglich, nicht wahr?« und er deutete mit dem Zeigefinger auf die Leiche.

      »Ausgeschlossen«, sagte der Italiener, der sich inzwischen als Dr. Malapelle aus Mailand vorgestellt hatte.

      »Ganz absolut unmöglich. Um die Wunde hervorzubringen, müßte er gehalten haben seinen Arm so:…« Und er demonstrierte die Bewegung mit ganz zum Schulterblatt hin verdrehtem Ellbogen. Statt des Revolvers hielt er seinen Füllfederhalter in der Hand. Die Spitze des Füllfederhalters war nur etwa zehn Zentimeter von der Stelle hinter dem rechten Ohr entfernt, an der an der Leiche die Einschußöffnung zu sehen war.

      »Ausgeschlossen«, wiederholte er. »Es hätte Pulverspuren gegeben. Und gerade weil es keine solchen hat gegeben, haben wir geschlossen, die Distanz hat sein müssen mehr als ein Meter.«

      »Hm«, meinte Studer. Er war nicht ganz überzeugt. Er schlug das Tuch zurück, das über dem Toten lag. Merkwürdig lange Arme hatte der Witschi…

      »Ergebenheit!« sagte Studer laut, so, als habe er endlich ein lang gesuchtes Wort gefunden. Es bezog sich auf den Gesichtsausdruck des Toten.

      »Fatalismo! Ganz richtig! Er hat gewußt, es ist alles aus. Aber ich weiß nicht, ob er hat gewußt, er muß sterben…«

      »Ja«, gab Studer zu, »es kann sein, daß er etwas anderes erwartet hat. Aber etwas, gegen das man nicht ankämpfen kann…«

      Felicitas Rose und Parker Duofold

      Das Mädchen las einen Roman von Felicitas Rose. Einmal hielt sie das Buch hoch, so daß Studer den Umschlag sehen konnte: ein Herr in Reithosen und blanken Stiefeln lehnte an einer Balustrade, im Hintergrunde schwammen Schwäne auf einem Schloßteich und ein Fräulein in Weiß spielte verschämt mit ihrem Sonnenschirm.

      »Warum lesen Sie eigentlich solchen Mist?« fragte Studer. – Es gibt gewisse Leute, die überempfindlich auf Jod und Brom sind, Idiosynkrasie nennt man dies… Studers Idiosynkrasie bezog sich auf Felicitas Rose und Courths- Mahler. Vielleicht, weil seine Frau früher solche Geschichten gerne gelesen hatte – nächtelang – dann war am Morgen der Kaffee dünn und lau gewesen und die Frau schmachtend. Und schmachtende Frauen am Morgen…

      Das Mädchen sah bei der Frage auf, wurde rot und sagte böse: »Das geht Euch nichts an!« versuchte weiter zu lesen, aber dann schien es ihr doch zu verleiden, sie klappte das Buch zu und steckte es in eine Aktenmappe, in der, wie Studer feststellte, noch zwei schmutzige Taschentücher, ein Füllfederhalter von imposanter Dicke und eine Handtasche verstaut waren. Dann blickte das Mädchen zum Fenster hinaus.

      Studer lächelte freundlich und betrachtete es aufmerksam. Er hatte Zeit…

      Der Zug kroch durch eine graue Landschaft. Regentropfen zogen punktierte Linien aufs Glas, dann flossen sie, unten am Fenster, zu kleinen trüben Seelein zusammen. Und andere Regentropfen punktierten aufs neue die Scheibe… Hügel stiegen auf, ein Wald verbarg sich im Nebel…

      Das Kinn des Mädchens war spitz. Laubflecken auf dem Nasensattel und an den sehr weißen Schläfen… Die hohen Absätze an den Schuhen waren an der Innenseite schief getreten. Sobald sich der Schuh verschob, ließ er ein Loch im dunklen Strumpf sehen, hinten, über der Ferse.

      Das Mädchen hatte ein Abonnement gezeigt. Es mußte die Strecke oft fahren. Wohin fuhr sie? Etwa auch nach Gerzenstein? Sie trug ein kleines Knötchen im Nacken, eine Baskenmütze über das rechte Ohr gezogen. Das blaue Béret war staubig.

      Studer lächelte väterlich milde, als ihn ein Blick des Mädchens streifte. Aber das Väterlich-Milde zog nicht. Das Mädchen starrte zum Fenster hinaus.

      Unruhig zuckten die Hände. Die kurzgeschnittenen Nägel hatten einen Trauerrand. Auf der Innenseite des rechten Zeigefingers war ein Tintenfleck.

      Noch einmal öffnete das Mädchen die Mappe, kramte darin, fand schließlich das Gesuchte.

      Es war ein dicker, echter Parker Duofold, ein ausgesprochen männlicher Füllfederhalter von brauner Farbe.

      Das Mädchen schraubte die Hülse ab, probierte die Feder auf dem Daumennagel, holte sich noch einmal Felicitas Rose aus der Mappe, aber nicht, um darin zu lesen: die letzte Seite sollte als Übungsfeld dienen. Sie kritzelte. Studer starrte auf die Buchstaben, die entstanden:

      »Sonja…« stand da. Und dann formte die Feder andere Buchstaben:

      »Deine Dich ewig liebende Sonja…«

      Studer wandte den Blick ab. Wenn das Mädchen jetzt aufsah, dann wurde es sicher verlegen oder böse. Man soll Leute nicht nutzlos böse oder verlegen machen. Man muß es ohnehin nur allzu oft tun, wenn man den Beruf eines Fahnders ausübt…

      Der Zugführer ging durch den Wagen. An der Tür, die zum nächsten Abteil führte, wandte sich der Mann um:

      »Gerzenstein«, sagte er laut.

      Das Mädchen behielt den Füllfederhalter in der Hand, ließ Felicitas Rose mit dem schönen Grafen in gewichsten Reitstiefeln in der Mappe verschwinden und stand auf.

      Ein Transformatorenhäuschen. Viele Einfamilienhäuser. Dann ein größeres Haus. Ein Schild darauf: ›Gerzensteiner Anzeiger. Druckerei Emil Aeschbacher‹. Daneben, im Garten, ein Käfig aus Drahtgeflecht. Kleine bunte Sittiche hockten verfroren auf Stangen. Die Bremsen schrieen. Studer stand auf, packte seinen Koffer am Griff und schritt zur Tür. Seine Gestalt im blauen Regenmantel füllte den Gang aus.

      Es tröpfelte noch immer. Der Stationsvorstand hatte einen dicken Mantel angezogen, seine rote Mütze war das einzig Farbige in all dem Grau. Studer trat auf ihn zu und fragte ihn, wo hier der Gasthof zum ›Bären‹ sei.

      »Die Bahnhofstraße hinauf, dann links, das erste große Haus mit einem Wirtsgarten daneben…« Der Stationsvorstand ließ Studer stehen.

      Wo war das Mädchen geblieben? Das Mädchen, das auf die letzte Seite eines broschierten Romans mit kleiner, etwas zittriger Schrift geschrieben hatte: »Deine Dich ewig liebende Sonja…« Sonja? Es hießen nicht viele Mädchen Sonja…

      Dort stand das Mädchen, vor dem Kiosk, dessen Fenster mit farbigen Einbänden tapeziert war. Es beugte sich zum kleinen Schiebfenster und Studer hörte es sagen:

      »Ich geh jetzt heim, Mutter. Wann kommst du?«

      Ein Gemurmel war die Antwort.

      Also doch die Sonja Witschi… Und die Mutter mußte man sich auch gleich ansehen. Die Mutter, die durch die Vermittlung des Herrn Gemeindepräsidenten Aeschbacher den Bahnhofkiosk erhalten hatte.

      Frau Witschi hatte die gleiche spitze Nase, das gleiche spitze Kinn wie ihre Tochter.

      Studer kaufte zwei Brissagos, dann schlenderte er über den Bahnhofplatz. Eine Bogenlampe. Um ihren Sockel ein Beet mit roten, steifen Tulpen. Aus einem der oberen Fenster des Bahnhofes schmetterte ein Lautsprecher den Deutschmeistermarsch. Etwa fünfzig Schritte vor dem Wachtmeister ging das Mädchen Sonja.

      Vor einem Coiffeurladen stand ein bleicher Jüngling, der einen weißen Mantel mit blauen Aufschlägen trug. Sonja trat auf den Jüngling zu, Studer blieb vor einem Laden stehen. Er schielte zu dem Paar hinüber, das sich flüsternd unterhielt, dann reichte das Mädchen dem Jüngling einen Gegenstand und trippelte davon. Aus der Tür des Coiffeurladens quoll eine knödlige Stimme: »Sie hören jetzt das Zeitzeichen des chronometrischen Observatoriums in Neuchâtel…« Und gedämpft, durch die geschlossene Türe drang aus dem Laden, vor dem Studer stand, der ›Sambre et Meuse‹-Marsch…

      »Das Dorf Gerzenstein liebt Musik…«, stellte der Wachtmeister bei sich fest und betrat den Coiffeurladen.

      Er stellte den Koffer ab, hing seinen blauen Regenmantel

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