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ist die Kleischicht, ein entscheidender Faktor für die Stabilität des Deiches. Sie verhindert, dass der gesamte Deich allzu schnell durchweicht. Die konnte hier wegfallen oder zumindest dünner ausfallen. Und ich weiß auch warum. Es ging schlicht darum, dass die Lieferungen des Materials für ein, zwei Wochen eingestellt worden waren, weil das Konsortium in dieser Zeit als zahlungsunfähig galt. Gleichzeitig hatte sich die Betriebsleitung verpflichtet, die Ostkrümmung bis zu einem bestimmten Datum fertigzustellen. Die vertraglich festgelegten Sanktionen bei Nichterfüllung wären vermutlich ziemlich saftig ausgefallen. Und nun kam es, wie es kommen musste. Da wir gerade mal wieder Landtagswahlkampf hatten und ein Termin mit hochkarätigen Politikern am neuen Deich nicht fehlen durfte, wurde beschlossen, den Deich gemäß des Zeitplans fertigzustellen. Das offizielle Bauende war nach den Verzögerungen im Rahmen der finanziellen Schwierigkeiten des Baukonsortiums nach hinten verschoben worden. Andererseits war es praktisch nicht möglich, den Deichbau ordnungsgemäß abzuschließen. Also musste man etwas tun, um den Bau voranzutreiben. Gleichzeitig kamen offenbar Lieferschwierigkeiten hinzu – eben bedingt durch die drohende Insolvenz. Da stand nun die Deadline im Weg, wie bei so vielen Projekten, die fertig werden müssen, obwohl man weiß, dass dies in ausreichender Qualität kaum möglich sein wird. An dieser Stelle, an der Ostkrümmung, ist der Deich also schnell zusammengeschustert worden, anders kann man das wohl nicht sagen. Im Moment kein Klei vorhanden, extremer Zeitdruck, also Klei weglassen. Oder wenig Klei, dann eben nur das verbauen, was gerade noch da ist, kommt hier ja nicht so drauf an … Sand, Steine, Deckwerk für den Deichfuß? Auch weglassen. Sand setzen lassen? Ja, aber nicht zu lang …. Positive Folge: Der Zeitplan wurde eingehalten, die Verantwortlichen haben den obligatorischen Schnaps drauf getrunken, es wurden Reden gehalten, alle sind nach Hause gefahren, und das war’s. Nachteil: Na, dazu brauche ich dir nichts zu sagen …«

      August sah Wiard an, entgegnete aber nichts.

      »Und nun lies mal das hier«, fuhr Wiard fort und drückte August eine weitere Kopie in die Hand, die nun keine Zeichnungen, sondern ausschließlich Text enthielt. ›Vertraulich‹, dieser Stempel war nicht zu übersehen.

      »Nun lies schon, den Tee nehme ich mir selbst«, sagte Wiard und setzte seine Absicht in die Tat um.

      August folgte der Aufforderung und konnte nicht glauben, was er da wahrnahm. Nach einigen einleitenden Sätzen kamen die entscheidenden Worte: ›… ist davon auszugehen, dass angesichts der wesentlich geringeren seeseitigen Bedrohung dieses Deichabschnittes auf Höhe der Ostkrümmung die standardmäßig überaus hohen Qualitätsanforderungen nicht notwendig sind und daher von der vorgeschriebenen Norm geringfügig abgewichen werden kann.‹ Weitere Erläuterungen zu ›DIN‹ und ›ISO‹ und anderen, ihm oft nicht bekannten Abkürzungen las er nur oberflächlich, wusste aber, dass es hier um gute Ingenieurpraxis und gängige Vorgehensweisen beim Deichbau ging, die offenbar in der Endphase mit Füßen getreten worden waren. Soviel jedenfalls verstand er. ›Auf Höhe der Ostkrümmung werden daher angesichts des knapp bemessenen Zeitplanes einige sonst gängige Komponenten in von der Regel abweichender Menge verwendet, die für die speziell in diesem Abschnitt zu gewährleistende Sicherung des Deiches ausgelegt und in einem kurzfristig bei einem unabhängigen Büro in Auftrag gegebenen Sondergutachten unter den gegebenen Maßgaben als ausreichend erachtet worden sind.‹ August musste den Abschnitt zweimal lesen, um ihn zu verstehen. Wenn es so ausgedrückt wurde, dass man’s nicht gleich verstand, musste wohl etwas daran faul sein. So jedenfalls dachte August. So war das immer, auch beim Kleingedruckten in Versicherungsverträgen. Die Wahrheit kann man auch einfacher ausdrücken. Dennoch mutmaßte er: »Vielleicht ist das ja wirklich so, dass hier den Anforderungen nicht in vollem Umfang entsprochen werden muss, wenn ein unabhängiges Büro das bestätigt.«

      »Absoluter Unsinn«, befand Wiard barsch, »die Anforderungen müssen überall gleichermaßen erfüllt werden. Und so ein unabhängiges Büro, das kannst du erstens schmieren und zweitens ganz schnell mal eben gründen und dann ebenso schnell wieder auflösen, gerade wie es am besten passt. Alles andere zu denken, wäre naiv, August. So ist die Welt. Ich sage dir: Weil die Finanzierung plötzlich auf schwachen Füßen stand, wurden auf einmal ganz viele Leute nervös. Die im Konsortium tätigen Bauunternehmer, weil sie ihre Felle davonschwimmen sahen, die Chefs, weil sie ohne das Geld das Projekt nicht ordentlich zu Ende führen konnten und dann wohl kaum ihren verabredeten Lohn – na, das soll wohl einiges gewesen sein – bekommen würden, die Politiker, weil sie die Erfolgsgeschichte ihrer Legislaturperiode gefährdet sahen, die lokalen Behörden, weil sie der Bevölkerung hätten sagen müssen, dass sie den Deichbau trotz nahender Herbst- und Winterstürme stoppen würden, und, und, und … Die Finanzierung musste – wie auch immer – wieder passend gemacht werden, und der Deichschluss musste her. Was also dahintersteckt, ist eines: Geld – die einen wollten nicht Gefahr laufen, in Regress genommen zu werden, die anderen wollten das Risiko eines weiteren Kredites nicht eingehen, diese wollten das, andere jenes. Das alles wäre für die Verantwortlichen ein Desaster geworden. Außerdem wäre der politisch wichtige Termin geplatzt und die ganze Angelegenheit in die Presse gekommen, und …«, Wiard leerte die dritte Tasse in einem Zug, »… und es wäre, alles in allem, ein großes Hallo geworden, gelinde gesagt. Öffentlich ein großes Hallo, für die Politiker ein sehr negativer Punkt gerade vor der Wahl, für die Firma – und das ist das Entscheidende – endgültig das wirtschaftliche Fiasko. Die hatten ihre Gläubiger schon bis an den Rand des Wahnsinns getrieben; die erneute Nichteinhaltung der Deadline hätte das Fass zum Überlaufen gebracht. Für die Politiker hätte das einen Haufen neuer Arbeitsloser bedeutet, gerade hier in der Region, wo es ohnehin reichlich mau aussieht mit der Arbeit. Das hätte was bedeutet, und das so kurz vor der Wahl, das hätte wieder Prozente gekostet …«

      »Was ist mit dem Sondergutachten? Die Ostkrümmung liegt so weit vom Ufer weg, da läuft doch das Wasser wirklich nicht so hoch auf. Wiard, das sind doch alles noch keine Beweise – hier steht ja auch gar nicht, was eigentlich gemeint ist, wir haben das jetzt mal so interpretiert, dass es passt, aber …«

      »Mit dem Sondergutachten ist es genau so, wie ich es dir erklärt habe: Irgendwo findet man immer einen sogenannten Fachmann, der ein Gutachten schreibt, das so ausfällt, wie man es wünscht – man muss nur genügend bieten. Warum gibt es wohl Gegengutachten? Und wenn’s nicht klappt, schreiben die Ersten ein Gegengutachten zum Gegengutachten, und so weiter … Und wer soll sagen, welches Gutachten nun stimmt? Wir mit Sicherheit nicht, August, das steht fest. Etwas Derartiges wird manchmal so lange betrieben, bis es keine Sau mehr interessiert … Na, und am Ende wird’s dann eines der Gegen-Gegen-Gegengutachten, aufgrund dessen irgendetwas unternommen wird. Und wenn Argumente nicht mehr ausreichen, ob sie nun stimmen, oder nicht, na, dann muss man eben mit anderen Mitteln nachhelfen. Da steckten große Firmen drin, und wo viele Große sind, da ist auch großes Geld.« Wiard gönnte sich eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Was soll’s, ich habe es dir erzählt. Ich jedenfalls gebe nicht auf. Gerade jetzt, nach dem Steinwurf, der auch dir alle Zweifel nehmen sollte. Weißt du, ich will auch einfach wissen, wer es da auf mich abgesehen hat. Schließlich läuft der hier noch irgendwo herum und kommt unseren Häusern gefährlich nahe. Ich habe schon ein wenig Fracksausen, wenn ich mir das so vorstelle«. Wiards Wangen waren inzwischen wieder rötlich angelaufen.

      »Deinem Haus«, warf August ein.

      »Ach nee, und wer sagt dir, dass derjenige nicht auch weiß, dass wir ständig zusammenstecken? Der kann sicher eins und eins zusammenzählen, und dann ist die nächste Scheibe kaputt – aber auf deinem Hof.«

      August entgegnete darauf zunächst nichts, dann wurde ihm bewusst, dass Wiard recht hatte, und sein Pulsschlag erhöhte sich merkbar. Er murmelte: »Oh nee, holl mi up!«

      »Ich habe dir deshalb noch ein bisschen Bettlektüre mitgebracht. Aber bitte, ich weiß ja, dass das alles noch kein vollkommen rundes Bild ergibt«, er lächelte und schob ihm einen Plastikschnellhefter zu. August nahm den Ordner und ließ die Blätter einmal durch seine Hände rauschen.

      »Ich kann’s mir ja mal ansehen«, er flüsterte geradezu, Papierkram lag ihm nicht, egal wie er ihm entgegentrat. Er dachte an seine Kälberställe und daran, dass er nun weiter wittjen wollte. Wo war noch einmal die Linie, die er in Gedanken an die Wand gemalt hatte? Und überhaupt – es war Montagvormittag, und es musste jetzt weitergehen.

      »Wat

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