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uns einer neuen Lebensrealität anzupassen. Diese Spannung auszuhalten, ist anspruchsvoll. Spannung erzeugt aber auch jene Energie, die man benötigt, um Situationen zu bewältigen. Man muss Unsicherheit ertragen können, um von einem bisher stabilen Denk- und Verhaltensmuster zu einem neuen zu kommen. Vor allem aber hilft dabei, wenn man auf sicherem Grund steht.

      Die Forschung zu kritischen Lebensereignissen beschäftigt sich vorwiegend mit negativen, nicht beeinflussbaren Situationen. Gern geht dabei vergessen, dass viele Ereignisse aufgrund von Entscheidungen eintreten. Im Verlaufe unseres Lebens fällt jede und jeder eine Menge an Entscheidungen. Die meisten davon sind nicht wirklich durchdacht. Das gilt im privaten Bereich genauso wie für Entscheidungen von Organisationen. Anschließend zwingen uns viele dieser Entscheidungen zu Anpassungen, deren Ausmaß wir zuvor nicht bedacht haben. In Unternehmen und speziell in Expertenorganisationen führt dies dazu, dass Entscheidungen nicht mit der Konsequenz umgesetzt werden, wie man es sich wünschen würde.

      Ein Beispiel aus dem privaten Bereich: Ein neuer toller Job in einer anderen Stadt kann eine Menge Stress auslösen: zuerst der Umzug; dann der Abschied von Freund:innen; die schleichende Unsicherheit, ob es mit dem neuen Arbeitgeber funktionieren wird oder man den Job bereits wieder während der Probezeit verlieren wird; Spannungen mit den Kindern, die sich mit all diesen Veränderungen schwer tun, weil sie befürchten, keine Freund:innen zu finden; ein komplett neues Umfeld; eine neue Hausärztin, ein neuer Frisör, der nicht ganz überzeugt, ein anderer Bäcker, dessen Croissants hervorragend schmecken, nette Nachbar:innen, die jeden Abend mit viel Elan den Grill anwerfen und von denen man noch nicht weiß, wie sich das entwickeln wird, ein neuer Arbeitsweg für den/ die Partner:in mit mehr Stau, andere Ladenöffnungszeiten, andere Regeln für die Abfallentsorgung; An- und Abmeldung bei Behörden, Umzugsmeldungen an Versicherungen, höhere Krankenversicherungsprämien, neue Möbel, die online bestellt wurden und ewig auf sich warten lassen, Bilder, die nicht mehr zur neuen Wohnung passen, ein Elektroauto, für das man noch keinen Ladeanschluss hat. Das sind eigentlich harmlose Dinge. Denn man wollte diese Veränderung. Wahrscheinlich können wir auch auf Routinen und Vorerfahrungen zurückgreifen. Es ist nicht der erste Umzug, es ist nicht das erste Mal, dass etwas online bestellt wird, es ist nicht das erste Mal, dass man eine Wohnung selbst streicht. Trotzdem kann auch Erfreuliches Spannungen auslösen und neue Ordnungsmuster einfordern, die in ihrer zeitlichen Dichte und Anforderung als Belastung erlebt werden.

      Ganz anders sieht es aus, wenn uns eine Veränderung von außen aufgezwungen wird und wir darauf nicht vorbereitet sind. Da tun wir uns wesentlich schwerer. Covid-19 ist ein Paradebeispiel. Menschen mit Vorerkrankungen werden von einer Covid-19 Erkrankung besonders hart getroffen. Das sind in der Schweiz oder in Deutschland rund 30% der Bevölkerung. Ihr Risiko, an Covid-19 zu versterben, ist um ein Mehrfaches höher. Zudem ist die Gefahr gegeben, dass im Falle einer Infektion alles noch schlimmer wird. Im New England Journal of Medicine erschien ein Artikel, der die Kollateralschäden von Covid-19 beschreibt4: erhöhtes Risiko für Depression, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Konzentrationsprobleme, Suchtmittelmissbrauch, häusliche Gewalt, Gereiztheit, Stresserkrankungen wie Magen-Darm Probleme und das zusätzlich zu den gesundheitlichen Problemen, unter denen diese Population bereits leidet. Soziale, wirtschaftliche, psychische und physische Belastungen, die vorher schon da waren, können sich im Falle einer Erkrankung zu einem verheerenden Cocktail vermischen.

      Auf der individuellen Ebene wissen wir inzwischen recht viel über resilientes Verhalten. Klar ist, dass Kontrollüberzeugung eine wichtige Variable ist. Menschen unterscheiden sich darin, wie sie Situationen wahrnehmen und sich dabei verhalten. Kontrollüberzeugung ist eines der Basiskonzepte der Psychologie. Glaube ich daran, dass ich mit meinen Entscheidungen und mit meinem Handeln Einfluss nehme auf den weiteren Verlauf meines Lebens, oder glaube ich, dass andere dies tun? Erst dann können Vorerfahrungen erfolgreicher Bewältigung greifen. Negative, plötzlich auftretende, also nicht vorhersehbare, von außen aufgezwungenen Ereignissen – wie die Erkrankung an Covid-19 – sind besonders schwer zu bewältigen. Sie stellen hohe Anforderungen an die faktische und emotionale Anpassungsfähigkeit von Individuen und Organisationen. Eines ist aber gewiss: Mit dem richtigen Mindset und gemeinsam geht es besser.

      Was ist nun die Resilienz einer Person? Es ist die Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren, ohne dabei unterzugehen. Genau dasselbe gilt für Unternehmen. Da geht es ausserdem noch darum, mögliche Veränderungen zu antizipieren und sich rechtzeitig darauf vorzubereiten.

      Gegenüber der Managementliteratur gibt es aus Sicht der psychologischen Forschung drei wichtige Präzisierungen:

      1. Auch positive Ereignisse können belastend sein und müssen bewältigt werden;

      2. Es geht nicht nur um psychische Gesundheit, sondern auch um physische Widerstandsfähigkeit;

      3. Resilienz ist eher ein Mindset, weniger ein Persönlichkeitsmerkmal. Die Art und Weise, wie man die Welt wahrnimmt, spielt dabei eine entscheidende Rolle.

      Was hilft aus Sicht der Psychologie bei der Bewältigung auf individueller Ebene?

      

Emotionale Stabilität: Akzeptanz, positive Emotionen, positive Selbstwahrnehmung.

      

Kognitive Fähigkeiten: Selbstwirksamkeitserwartung, Vorstellungskraft, Kontrollüberzeugung, Kohärenzgefühl.

      

Interaktionale Faktoren: Soziale Unterstützung, Empathie, Achtsamkeit.

      

Persönlichkeitsvariablen: Risikofreude/Angstlevel, Offenheit, realistischer Optimismus.

      Die Überzeugung, dass es immer weitergeht und der nächste Schachzug die nächste Chance bietet, hilft bei der Bewältigung.

       Resilienz eines Notfallzentrums

      Die Resilienz einer Organisation ist viel schwieriger zu fassen als jene einer Person. Hier gibt es viel weniger Evidenz aus der Forschung. Die organisationale Resilienz umfasst kulturelle, emotionale, strukturelle und prozessuale Elemente. Ingenieur:innen und Betriebswirtschaftler:innen, die zu diesem Thema forschen und publizieren, fokussieren gern auf die eher technischen Aspekte organisationaler Resilienz. „Business Continuity“ ist ein Konzept, das wertvoll ist, aber nur einen Teilaspekt organisationaler Resilienz berührt. Wir gehen heute davon aus, dass die kulturellen und emotionalen Aspekte den mehr technischen vorgeschaltet sind. Unternehmen und deren Mitarbeitende tun sich schwer, in einer Situation der Veränderung die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen.

      Der Untergang von Kodak ist ein Paradebeispiel für das Festhalten an Glaubensgrundsätzen. Weil man nicht an die Zukunft der digitalen Fotografie glauben mochte, hielt man an überholten Technologien fest. Lieber untergehen, als den Glauben zu verlieren. Unternehmenskulturen schränken das Denken ein und damit auch die Fähigkeit, Dinge anders zu sehen und neue Verhaltensmuster zu entwickeln. Eine ganz zentrale Frage im Zusammenhang mit organisationaler Resilienz ist, wie viele Bewältigungsressourcen sich neben dem Tagesgeschäft mobilisieren lassen. Wenn das Tagesgeschäft bereits alle Ressourcen konsumiert, bleibt keine Kraft mehr für Veränderung, Innovation und Krisenbewältigung.

      Ein Beispiel, wie organisationale Resilienz mithilfe des Lean-Gedankens weiterentwickelt werden kann, soll dies verdeutlichen. Nehmen wir das Notfallzentrum eines Zentrumsspitals in einer Wintersportregion. Da kommen gestürzte Abfahrer, verletzte Alpinisten aller Art, Herzinfarktpatienten, Seniorinnen mit Schlaganfällen, Hobby-Heimwerker mit Schnittverletzungen, Hochbetagte mit Schwächeanfällen, schwerverletzte Gleitschirmfliegerinnen, im Winter Snowboarderinnen, Skitourengänger, Lawinenopfer und Skipistenfahrerinnen mit Polytrauma, Menschen allen Alters, in die Notaufnahme. In der Zwischensaison treffen im Notfallzentrum um die 60 Patient:innen täglich ein, in der Hochsaison sind es bis zu 180 Patient:innen täglich, also rund dreimal mehr. Es sind nicht nur mehr Patient:innen, sondern auch der Schweregrad der Verletzungen ist im Schnitt deutlich höher. Man könnte meinen, diese

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