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      Moralunternehmer sind selbstberufene Menschen, die es sich zur Aufgabe machen, vor den ihrer Meinung nach hauptsächlich negativen Auswirkungen neuer Technologien und Gesellschaftsmodelle zu warnen.8 Zur Begründung werden soziale, moralische und ethische Normen herangezogen, die gemäß den Moralunternehmern zu einer Auflösung der Gesellschaft, degenerierten Kindern, dem Verlust von Traditionen und Normen und generell einem Verfall von Zivilisation und Kultur führen würden.

      So wurden Teddybären verteufelt, weil sie kleine Mädchen davon ablenken würden, sich auf eine Mutterschaft vorzubereiten. Bei Spiegeln wurde die Gefahr gesehen, dass Mädchen und Frauen sich den ganzen Tag nur mehr vor dem Spiegel betrachten würden. Man ersetze Spiegel durch Selfie und die Argumente sind dieselben. Jonas Hanway zog vor 250 Jahren in London mit seinem Regenschirm den Spott seiner Mitbürger auf sich. All diese Erfindungen waren widernatürlich und ein Zeichen des Sittenverfalls, der Verweichlichung der Gesellschaft und des zivilisatorischen Niedergangs.

      Dass eine Erfindung widernatürlich sei, einem moralischen Normbruch gleichkäme und damit die Gesellschaft und die Menschheit den Bach runtergehe, ist ein wiederkehrendes Motiv über all die Jahrhunderte. Nichts vereint die Menschheit mehr über die Zeitenspanne als das Jammern über den Sittenverfall und die Jugend von heute.

      Mag das bei den Älteren als Spleen durchgehen oder ironisch gemeint sein – oftmals nostalgisch verklärt –, so betrachten Moralunternehmer, die sogenannten „Merchants of Bad“ („Verkäufer schlechter Nachrichten“), das als ihren Job.9 Es befeuert sie dabei oft nicht nur echter Glaube an ihre eigenen Argumente, die damit erhaltene Aufmerksamkeit bestärkt sie auch in ihren Anstrengungen. Es macht süchtig, eingeladen zu werden, seine Meinung öffentlich kundzutun und ernst genommen zu werden.

      Ein interessantes Beispiel stellt der im Jahr 1895 in Nürnberg geborene Friedrich Ignatz Wertheimer dar, der später unter seinem amerikanisierten Namen Fredric Wertham Berühmtheit gewinnen sollte.10 Als Leiter einer psychiatrischen Klinik untersuchte er den Fall eines 17-Jährigen, der seine Mutter umgebracht hatte. Mit diesem Fall und weiteren Studien versuchte Wertham, einen Zusammenhang zwischen gewalttätigen und sexualisierten Comics und der Gewaltbereitschaft bei Kindern herzustellen. Er war derjenige, der zwischen Batman und Robin homosexuelle Tendenzen oder in Wonder Womans Lasso die Vagina erkannt haben wollte, und begann einen Kreuzzug gegen Comics, der bei konservativen Politikern auf offene Ohren stieß – und letztendlich im „Comics Code“ mündete, einer halbfreiwilligen Zensur und Regulierung der Darstellungen in Comics.

      Selbst als der Comics Code eingeführt worden war und das öffentliche Interesse an Wertham zurückging, gab er nicht auf. Der Comics Code ging ihm nicht weit genug und er bemühte sich um eine Verschärfung. Doch ab diesem Zeitpunkt war das öffentliche Interesse an diesem Thema schon abgeklungen.

      Moralunternehmer sind auch nach Erreichen ihrer Ziele nicht befriedigt. Sie leben davon, dass Menschen sich echauffieren, und suchen nach weiteren Argumenten oder neuen Themen, um als Warner aufzutreten. Die Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit und die Reaktionen, die sie hervorrufen, korrumpieren Moralunternehmer. Wer einmal Blut geleckt hat, will immer mehr. So kommt es zu einem Wettlauf der „Experten“ um das nächste Thema, den nächsten Aufreger. Diese sind beliebte Talkshow- und Interviewgäste, weil sie einfach verständliche Meinungen vertreten und eine gute Show – und damit Einschaltquoten – liefern. Eine ausgewogene Meinung macht sich auf dem Bildschirm hingegen weniger gut. Auch ist womöglich ein tiefes Verständnis der Materie eher hinderlich, um dem Publikum Unterhaltung zu bieten.

      Der Grund, warum Moralunternehmer immer Gehör finden, liegt an zwei Komplizen: den Journalisten, die nach sensationellen Schlagzeilen suchen, um ihre Verkaufszahlen zu steigern, und den Politikern, die mit Freude einen Missstand öffentlichkeitswirksam anpacken und damit ihre Tatkraft – natürlich – für das Wohl der Bevölkerung zeigen wollen.

      1953 veröffentlicht der Philosoph Sir Isaiah Berlin sein Essay „Der Igel und der Fuchs“, in dem er große Autoren und Denker in zwei Kategorien einteilt. Auf der einen Seite die Igel, die eine große Idee propagieren, auf der anderen Seite diejenigen, die aus einer Reihe von Ideen und Prinzipien schöpfen und postulieren, dass die Welt nicht auf eine Idee oder ein Prinzip reduziert werden kann. Zu den Igeln zählte er beispielsweise Platon, Dostojewski oder Nietzsche, zu den Füchsen Aristoteles, Shakespeare oder Goethe.

      Der Politwissenschaftler Philip Tetlock griff diese Einteilung für Vorhersagen im Bereich Zukunftsforschung auf.11 Experten und Analysten, die vor allem eine Idee oder ein vereinheitlichendes Prinzip, das oft auf ideologischem Denken basiert, wiederholt vorbrachten, lagen signifikant oft mit ihren Vorhersagen falsch. Diese nannte er die Igel. Diejenigen Analysten und Experten, die eine differenziertere Betrachtungsweise bevorzugten, lagen öfter richtig. Das waren die Füchse. Sie holen sich Information aus verschiedenen Quellen und suchen auch aktiv nach widersprüchlichen Informationen, um ihr Denken und ihre Schlussfolgerungen zu hinterfragen.

      Da Vorhersagen nie zu 100 Prozent eintreten, fanden selbst Igel, die immer falschlagen, Gründe, warum sie trotzdem recht hatten. Oder sie verwarfen die Hinweise auf die falschen Vorhersagen mit einem Schulterzucken. Nicht nur das. Sie fanden sich auch ermutigt, ihre Ideen und Prinzipien auf andere Fachbereiche auszudehnen. Je mehr sie das machten, desto tiefer versanken sie in ihrer intellektuellen Fallgrube und waren immer weniger bereit, neue Informationen, die ihrer Idee widersprachen, aufzunehmen. Sie befanden sich in einer Filterblase, in der sie nur mehr bestätigende Information zuließen oder so interpretierten.

      Moderne heimische Igel und Moralunternehmer, die durch unsere Talkshows tingeln und in ihren Büchern simple Meinungen und nur selten Lösungsvorschläge – und auch diese oft von recht simpler oder alternativ radikaler Natur – medienwirksam vortragen, sind unter anderem Richard David Precht oder Anders Indset. Sie fallen mehr durch die Fülle ihrer Locken und zitierbaren Bonmots auf als durch ihr Technologieverständnis oder ein wirkliches Verständnis des gesellschaftlichen Wandels. Sie blenden uns mit dem Einstreuen von diesem Philosophen hier oder jenem ungenannten Vorstandsvorsitzenden da, mit dem sie auf einem Empfang geplaudert haben, definieren aber niemals ihre Begriffe, erklären nicht die Technologie, schlüsseln ihre Argumente nicht logisch auf, zeichnen aber ein Bedrohungsszenario nach dem anderen. Als Konsequenz fordern sie ein radikales Umdenken, radikale Maßnahmen, echauffieren sich, wenn dies nicht passiert, und fühlen sich bestätigt, wenn sich die Welt nicht gemäß ihren Vorstellungen ändert. Und das tut sie eigentlich nie, weil sie – wie schon Wertham – sofort nach noch radikalerem Vorgehen verlangen und bereits beim nächsten zivilisationsbedrohenden Thema ihrer Empörung eloquent Ausdruck verleihen.

      Moralunternehmer folgen dabei dem FUD-Prinzip („Fear, Uncertainty and Doubt“, „Furcht, Ungewissheit und Zweifel“), indem sie Angstgefühle auslösen.12 Dabei geht es ihnen immer um die Selbstdarstellung. Jemand, der all diese Gefahren und Konsequenzen erkennen kann, hat das System dank seiner intellektuellen Fähigkeiten durchschaut. Jeder andere, der statt von den Gefahren von den Möglichkeiten und Chancen des Fortschritts spricht, kann nur naiv sein und fällt auf die Eigeninteressen von Ingenieuren, Technikern und Unternehmen herein, die davon profitieren wollen.

      Die Psychologin und Harvard-Professorin Teresa Amabile hat diese Verhaltensweise in Experimenten untersucht. Sie legte Studenten zwei Buchrezensionen vor. Eine war eher positiv formuliert, die andere kritisch. Anschließend sollten die Studenten die Intelligenz der Rezensenten einschätzen. Die Studenten bewerteten die Intelligenz des Verfassers der kritischen Rezension höher. Was die Studenten aber nicht wussten: Beide Buchkritiken waren von Amabile selbst verfasst worden.13 Wer war nun intelligenter? Teresa oder Amabile?

      Was ist, wenn ein ganzes Land oder Kontinent zum Moralunternehmer wird? Deutschland und Europa sind auf dem besten Weg dahin. Deutschland mit seinen Warnungen vor Datenmissbrauch und Europa mit seiner scheinbar einzigen Art, mit Fortschritt umzugehen, indem man alles beinahe zu Tode reguliert, rufen international vor allem Augenrollen hervor.

      Wie ging es mit Fredric Wertham und seinen Studien weiter? Vor einigen Jahren stellte sich in einer überraschenden Wendung der Dinge heraus, dass die Schlussfolgerungen in Werthams Studien unter anderem auf vorsätzlich gefälschten Daten basierten.14

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