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bleibt festzuhalten: Die christliche Freiheit im Verständnis Luthers bewegt sich innerhalb der christlichen Überlieferung, vor allem in ihrem Bezug auf die Heilige Schrift.

      Wie sich im Verlauf der weiteren Geschichte zeigen sollte, war damit aber noch nicht der letzte Schritt der Inanspruchnahme von Freiheit getan. Es folgte ein zweiter Individualisierungsschub: „Individualisierung Zwei“. In diesem zweiten Schritt nehmen die Einzelnen nicht nur die Freiheit in Anspruch, innerhalb der christlichen Religion frei zu wählen, sondern auch wählen zu können, frei von Religion zu sein. Damit wird Religion eine Option, die man ergreifen kann, aber nicht muss. Zur einzigen Autorität wird damit die individuelle Autonomie, vor der bestehen muss, was Gültigkeit haben soll.

      Religiosität wird im 21. Jahrhundert – anders als noch vor 100 Jahren – unausweichlich in einer „kosmopolitischen Konstellation“ gelebt: immer ist man von Gläubigen anderer Religionen, von Nicht-Glaubenden und Anders-Religiösen umgeben. Religiöser Pluralismus wird somit zur Alltagserfahrung, die bis in die innersten Poren des Einzelnen eindringt. Denn allein die Präsenz der Anders-Glaubenden führt vor Augen, dass es durchaus die Möglichkeit gibt, anders und anderes zu glauben und auf andere Weise religiös zu sein. Die selbstgewählte religiöse Option wird damit ein Stück fragiler, weil es offensichtlich auch Alternativen zur eigenen Religiosität gäbe. Wie wir später noch sehen werden, kann Kosmopolitisierung positiv durchaus als Bereicherung der eigenen Religiosität erlebt werden und eine Kultur der Anerkennung anderer mit sich bringen. Die kosmopolitische Konstellation wirft in jedem Fall die Frage auf, wie mit dem Fremden und der eigenen Unsicherheit im Umgang mit ihm umzugehen ist. Längst haben sich religiöse Kulturen aus ihren Ursprungsländern gelöst und sind vor der eigenen Haustür, ja mehr noch: im eigenen Herzen angekommen.

      Immer wieder versuchen Soziologen durch Schlagworte die die Gegenwart bestimmenden Muster und Logiken auf einen Nenner zu bringen: die Risikogesellschaft, die Erlebnisgesellschaft usw. In der derzeitigen soziologischen Diskussion ist es nun Andreas Reckwitz, der mit seinem Versuch, Singularität als das Merkmal der Gegenwart zu beschreiben, viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. In seiner Gesellschaft der Singularitäten untersucht er das Streben spätmoderner Subjekte nach Selbstverwirklichung, Authentizität und Besonderheit. „Sei etwas Besonderes“ ist nach Reckwitz der singularistische Imperativ der Spätmoderne Obwohl die Suche nach Selbstentfaltung ja bereits seit den 1960er Jahren zum Inventar moderner Subjekte gehört, hat sich der Vorgang der Kulturalisierung, wie Reckwitz ihn nennt, nochmals intensiviert und auf praktisch alle Lebensbereiche ausgedehnt. War die Moderne zunächst durch Rationalisierungen geprägt,10 die unter dem Gesichtspunkt der Effizienz das Problem der Knappheit behoben, so tritt in der Spätmoderne neben die Rationalisierung, die genormte Standardprodukte hervorbrachte, das Prinzip der Kulturalisierung. Kulturalisierung meint einen Bewertungsprozess (Valorisierung), in dem Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive auf bestimmte Weise in ein soziales Raster eingeordnet werden; mit anderen Worten geht es darum, wie Dinge, Menschen, Zeiten und Orte mit einem kulturellen Wert versehen werden. Von Kultur können wir dort sprechen, wo etwas oder jemandem gesellschaftlicher Wert zu- oder abgeschrieben wird. Die einzelnen Subjekte sind dabei ständig auf der Suche nach etwas Besonderem, das sie emotional berührt. Was emotional berührt, gilt als wertvoll und authentisch und unterscheidet sich so von allem Standardmäßigem. „Ein Nahrungsmittel oder eine Mahlzeit beispielsweise kann zum Gegenstand der Kulturalisierung werden, indem es über seinen Nutzen hinaus als Träger von Wert valorisiert wird (‚gesund‘, ‚originell‘, ‚heilig‘ etc.) und affizierend wirkt (‚erhebend‘, ‚geschmackvoll‘, ‚außergewöhnlich‘) … Die Mahlzeit wird aus dem allgemeinen Katalog der Ernährungsweisen herausgehoben, sie entwickelt eine Eigenkomplexität und innere Dichte …“11

      Nahrung dient so nicht nur dem Stillen eines Grundbedürfnisses, sondern wird geradezu sakral aufgeladen.12 In fünf verschiedenen Hinsichten lassen sich Objekte, Subjekte, Orte, Zeiten und Kollektive als wertvoll qualifizieren. Sie können eine ästhetische, narrativ-hermeneutische, ethische, gestalterische oder ludische (spielerische) Qualität erhalten, wobei sie entweder einer Sinndimension oder einer sinnlichen Dimension zugeordnet werden können. Damit nun das einzelne Subjekt selbst zu etwas Besonderem werden kann, muss es sich möglichst viele dieser als dicht und eigenkomplex zu verstehenden Objekte durch Erfahrung aneignen. Verbunden ist damit die Hoffnung, dass durch den Umgang mit diesen einzigartigen Objekten deren Einzigartigkeit auf das Selbst abfärbt. „Etwas gilt (nur dann) in der Welt, wenn es interessant und wertvoll ist, und das heißt: wenn es singulär ist, wenn es affektiv anspricht und authentisch scheint. Konsequenterweise erwartet das spätmoderne Subjekt diese Einzigartigkeit auch von den anderen Subjekten – und von sich selbst.“13

      Nun sucht der Einzelne, der selbst einzigartig sein will, ja nicht allein nach dem Besonderen, das er sich aneignen könnte, vielmehr vollziehen sich diese Prozesse, angefeuert durch den Selbstverwirklichungsimperativ, auf einem ganzen Markt, auf dem um Sichtbarkeit und Anerkennung vor einem Publikum gekämpft wird: Singularität ist kompetitiv, geht es doch darum, von einem launischen und zerstreuten Publikum als einzigartig und authentisch bewertet und „gelikt“ zu werden. Die digitalen Medien und Portale zwingen so zur Selbstinszenierung und Performance.

      Obwohl nicht alle sozialen Schichten von diesem Phänomen betroffen sind – die sozial Schwachen kämpfen mit anderen Problemen wie unbezahlten Rechnungen und Lebensmittelbeschaffung –, erzeugen die hier beschriebenen Prozesse einen enormen Druck auf den Einzelnen, von dem auch sein Verhältnis zum Religiösen nicht unberührt bleiben kann. Wir werden darauf zurückkommen.

      Darf man den regelmäßig durchgeführten Umfragen trauen, in denen nach der Zustimmung zu inhaltlichen Aussagen des christlichen Glaubens gefragt wird, nimmt der Abstand der Europäer zu den Lehren der Kirchen immer mehr zu. Einmal mehr zeigt sich, dass institutionalisierte Religion und individueller Glaube immer weiter auseinandertreten. „Die individualisierten Gläubigen laufen wortwörtlich den alten Kirchenvätern und ihren Dogmen davon …“14

      In gewisser Weise wird damit die Spannung deutlich, die von Anfang an im Christentum bestand, denn der christliche Glaube zielte von Anfang an auf die individuelle Glaubensentscheidung des Einzelnen, obwohl sich der Einzelne mit diesem Schritt einem vorgegebenen Glaubenssystem unterordnete. In der Gegenwart wird diese Spannung nun zunehmend dahingehend aufgelöst, dass immer weniger dem vorgegebenen dogmatischen Inhalt zugestimmt wird. Vielmehr liegt der Fokus heute auf dem emotionalen und erfahrungsmäßigen Zugang: Ich glaube nur das, was ich selbst erlebt und erfahren habe. Die Konstruktion des „eigenen Gottes“ ist vorläufig der Höhepunkt dieser Entwicklung, die darin besteht, dass „sich der glaubende Mensch den ‚eigenen Gott‘ schafft, dessen Selbstoffenbarung dem ‚eigenen‘ Leben subjektive Gewissheit und Erlösung verspricht.15

      Das Stichwort der Entdogmatisierung beschreibt damit ein doppeltes Phänomen: Nicht nur entfernen sich die Glaubenden zum einen von den vorgegebenen Dogmen der Tradition und schaffen sich eigene Glaubenserzählungen. Darüber hinaus wird zum Zweiten der rationale Zugang zu den Inhalten der Tradition durch emotionale Erfahrung ersetzt. „Grundlage der Individualisierung des Glaubens wird damit ein neuer Grundsatz, der sich so formulieren lässt: Es gibt in religiösen Fragen keine Wahrheit außer der persönlichen, die man sich selbst erarbeitet hat.“16

      Die Wahrheit der Religion bindet sich somit an die eigene authentische Erfahrung, in deren Kessel die lediglich behauptete kirchliche Lehre verdampft. „Die Vermittlung des christlichen Glaubens in den Formeln der Tradition hat ihre Haltbarkeitsgrenze überschritten.“17

      Die bisher in den Blick genommenen Phänomene ließen sich ebenso gut unter dem Stichwort der Enttraditionalisierung zusammenfassen: Das individualisierte Subjekt kehrt vorgegebenen Traditionen und Mustern den Rücken zu, um sich einen eigenen Weg zu suchen. Nicht das Ererbte, nicht die kulturellen und religiösen Kontexte, in die man hineingeboren wurde, tragen durchs Leben, sondern

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