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es ging mich nichts an. Wir tranken das Bier, das er mitgebracht hatte, und als ich nach drinnen ging, um eine Flasche Rotwein zu holen, fragte er mich, ob er über Nacht bleiben könne. Schweigend reichte ich ihm das Glas. Er meine natürlich nur so, übernachten eben, deshalb, er hob das Glas ein wenig an. Ja, klar, sagte ich. Zu viel Alkohol, nicht Auto fahren. Bestechend logisch und vernünftig. Er baute sich aus Kissen und Wolldecken ein Lager dicht neben meinem Bett. Es war der einzige Ort, der genügend Platz bot sich auszustrecken. Ich zog mich in meinem kleinen Bad um, Sommerpyjama, er sich bis auf die Unterhose aus. In der Dunkelheit hörte ich, wie er gleichmäßig atmete. Sein Atem war ruhig, aber flach, nicht der Atem von jemandem, der tief schläft. Es war der Atem von jemandem, der auf etwas wartet. Geduldig. Warum ist eigentlich nie etwas aus uns geworden? War das mein Gedanke, oder hatte er diesen Satz tatsächlich ausgesprochen? Von irgendwoher war dieser Satz aufgetaucht und stand in dem dunklen halben Meter zwischen uns.

      Mit den zwei CDs in der Tasche steuere ich das Kolben-Café an. Das gibt es schon viel länger als mich in dieser Stadt, und obwohl mit den Jahren noch ein paar Orte mit gutem Kaffee dazugekommen sind, bleibe ich ihm treu.

      Der Verkäufer im Musikgeschäft vorhin war gut informiert und kaum zu stoppen gewesen. Vermutlich passiert ihm das nicht alle Tage, dass sich jemand für die Nische interessiert, die sein Steckenpferd ist. Er schwärmte von einem Konzert in Marseille, da habe er Stéphane zum ersten Mal gehört, vor langer Zeit, in einem winzigen Saal. In Frankreich gebe es eine treue Fangemeinde dieser eigentümlichen Verbindung aus Poesie und Musik, aber leider werde so etwas selbst im französischen Radio kaum mehr gespielt, und so weiter und so weiter. Er tauchte unter der Theke nach Raritäten, die er mir zeigen wollte, verschwand in den Tiefen des Lagers, obwohl der Laden voller ungeduldiger Weihnachtseinkäufer stand, kehrte mit einem Stapel CDs verschiedener Künstler zurück, die er mir alle ans Herz legen wollte. Am Ende sah ich trotzdem davon ab, mehr zu kaufen, als ich vorgehabt hatte. Ich wolle ja nicht gleich ein Hobby oder eine Wissenschaft daraus machen, sagte ich entschuldigend. Für den Moment sei mir der eine Sänger genug.

      Es waren auch Künstler dabei gewesen, die Stéphane in unserem langen Gespräch am Samstagmorgen erwähnt hatte. Ich war nach dem Frühstück bei einem der Schriftsteller sitzen geblieben, von dem ich nichts wusste, als dass er sich einen Namen gemacht hatte und schon lange im Geschäft war, und hatte versucht, den einen oder anderen brauchbaren Satz in dem zu entdecken, was er über sein Schreiben und seinen Alltag erzählte. Er nenne sich lieber Autor als Schriftsteller, sagte er, das würden die meisten so halten. Ich fragte mich, ob das eine Demutsgeste sei, echt oder geheuchelt. Ich mag den altmodischen Begriff Schriftstellerin, da doch die ganze Berufswahl sowieso eine einzige Anmaßung und Selbstüberschätzung ist. Man hofft, irgendwann einmal etwas zustande zu bringen, das den Namen Kunst verdient. Darauf legt man es an, muss man es anlegen. Das kann man dann ruhig auch sagen.

      Stéphane hatte sich einfach zu mir und meinem Kollegen gesetzt. Er setzte sich neben mich, nicht direkt, sondern mit einem Stuhl Abstand, auf den er das Magazin legte, das er sich zum Lesen mitgebracht hatte. Als der andere aufbrach, blieb er sitzen. Und als er sich noch einen Kaffee holte, blieb ich sitzen. Als uns die Wirtin vom Tisch vertrieb, den sie fürs Mittagessen herrichten wollte, wechselten wir gemeinsam an einen Tisch nebenan. Als er nach draußen zum Rauchen ging, ging ich mit, obwohl ich nicht rauche. Es hätte genügend Gelegenheiten gegeben, unser Gespräch zu beenden. Wir hätten uns voneinander lösen und einfach auseinandergehen können. Ich denke zurück an diesen Morgen und sehe, wie wir Seite an Seite in unsere Kaffeetassen schauen und übers Geschichtenerzählen in der Musik und in der Literatur sprechen, woher sie kommen, die Geschichten, was sie hervortreibt und herbeilockt, warum manche unausweichlich sind und manche nie erzählt werden. Ich sehe ihn an der Ecke des Wirtshaustisches sitzen und von seinen Töchtern sprechen und vom Fangenspielen, und ich erinnere mich, wie gerne ich die Hand ausgestreckt und sie an seine Wange gelegt hätte, um besser in seine blauen Augen schauen zu können und etwas Wesentliches von ihm zu erfahren. Ich sehe uns draußen auf der Treppe beieinanderstehen und erinnere mich, wie ich den Impuls unterdrücke, meinen Arm unter seinen zu schieben und mich an ihn zu lehnen. Das war der Moment, in dem ich gegangen bin, um, wie ich sagte, doch noch die Lesung meines Kollegen zu besuchen, für die ich spät dran war, und in der ich mich dann sehr gelangweilt habe.

      Stéphane schreibt: Ich möchte nicht in einer Geschichte vorkommen. Ich schreibe meine Lieder auch nicht nach der Wirklichkeit.

      Ich denke: Nicht in einer Geschichte vorkommen? Das tust du doch längst. Oder woher kommen deine Lieder? Und was soll das sein, die Wirklichkeit? It’s all in your head, baby. Alle Künstler lügen. Ich werde wohl auch nicht ohne Lügen auskommen. Schon mein erstes Buch war von vorne bis hinten zusammengelogen. Aber eins nach dem anderen.

      Ich biege in die Gasse ein, die zum Kolben-Café führt, passiere das Eckhaus mit der Studentenverbindung. Hinter einem dieser Fenster gab es mal einen, der war Volkswirtschaftler. Ich versuche mich zu erinnern, wie ich ihn kennengelernt hatte. Seminare oder Vorlesungen scheiden aus. Es fällt mir nicht ein. Er war aus der Gegend, stammte aus einer Kleinstadt an der französischen Grenze, deren Name mir nichts sagte. Wir hörten Hiphop und House in seinem Zimmer hinter diesem Fenster und hatten uns nicht viel zu sagen. Wenn er redete, dann redete er über Techno-Partys und schwärmte für Straßburg und Mulhouse und überhaupt für die Franzosen, die so viel lässiger seien als die langweiligen Deutschen.

      Unsere erste größere Unternehmung führte dann auch gleich ins Elsass. Es war kurz vor Weihnachten, wie jetzt, und wir waren im Ballett. Schwanensee. Oder Nussknacker? Ich fror, sehr sogar, weil ich mit meiner Vorstellung von den lässigen Französinnen hatte mithalten wollen und einen kurzen Rock und hohe Schuhe trug. Im Theater war es wenigstens warm. Die Aufführung langweilte mich, Tschaikowski langweilte mich, wie immer schon, am langweiligsten aber war er. Jeder Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen, mündete nach zwei, drei Sätzen in ein Schweigen der schwer erträglichen Sorte. Auf dem Rückweg zum Auto hielt er ein bisschen meine Hand und legte ein bisschen seinen Arm um mich, während ich eine monströse Erkältung in mir aufsteigen fühlte. Ich rächte mich, indem ich beiläufig von Friedrich erzählte, und dass er nach Freiburg kommen werde, um als Rettungssanitäter zu arbeiten, weil er auf seinen Studienplatz warten müsse. Sein Abi-Schnitt sei bei Weitem nicht gut genug gewesen. Und schon gar nicht so gut wie meiner.

      Heute frage ich mich, warum sich der Volkswirtschaftler immer noch weiter mit mir treffen wollte. Und warum ich immer noch weiter hingegangen bin. Vielleicht aus Langeweile. Oder Mitleid. Oder weil die anderen in seiner Verbindungs-WG so munter waren. Jedes Mal aufs Neue aber, wenn sich die Tür zu seinem Zimmer hinter uns schloss, fror langsam alles ein. Eines Abends legte er U2 in den CD-Spieler, I still haven’t found what I’m looking for, und kramte ein Gedicht hervor. Das habe er vor einiger Zeit für eine Freundin geschrieben, log er und verstummte. Von betörendem Duft, unbeschreiblichem Gefühl, Anmut, Grazie, gar Vollkommenheit, vom Unglaublichsten, was die Natur je erschuf, bis hin zu den glühenden Augen der Sphinx und dem Lächeln der Sirenen war alles dabei. Ich hatte das Werk in wenigen Augenblicken überflogen. Jetzt tat er mir wirklich leid. Ich betrachtete das Blatt deutlich länger als nötig, dann lächelte ich ihn an. Schön, log ich und gab es ihm zurück. Was ist aus ihr geworden, fragte ich im Aufstehen. An seine Antwort kann ich mich nicht erinnern. Am nächsten Tag fand ich einen Umschlag in meinem Briefkasten, darin war das Gedicht. Mit der Hand hatte er dazugeschrieben: Nur Bewunderung, Jens. Genau. Jens hieß er. Oder Jan?

      Ich sitze vor meiner Tasse Cappuccino und hätte Lust, im Internet nach Jens zu suchen, aber mir fällt nicht ein, wie er mit Nachnamen hieß. Warum sind es die Namen, die man als Erstes vergisst? Ich kann mich an Einzelheiten erinnern, an den Klang einer Stimme, an einzelne Sätze, aber an Namen erinnere ich mich oft nicht.

      Ich lasse Jens Jens sein und tippe Stéphanes Namen in die Suchmaschine. Es ist sein Künstlername, die ersten zwei Buchstaben genügen, an den Rest erinnert sich die Suchmaschine. Ich versuche, mir ein Bild von ihm zu machen, mich an die Oberfläche zu halten, um wieder Distanz zu gewinnen. Das ist doch dieser in Frankreich recht bekannte Sänger, nouveau chanson und so, der mit Frau und Kindern in Straßburg lebt und eine Webseite hat und ein Facebook-Profil. Jeder seiner wenigen, aber regelmäßigen Posts, die vermutlich von einer hübschen Marketingassistentin seiner Plattenfirma hochgeladen werden, zieht eine

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