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Sie können sich fragen: „Wie erlebe ich dies in meinem Körper?“ oder „Was möchte dieses Gefühl von mir?“ oder „Was glaube ich von mir?“, „Was glaube ich von anderen?“ Der Impuls für so eine Untersuchung entsteht aus unserer angeborenen Intelligenz. Wir erkennen, dass wir uns für ein tieferes Verständnis unserer Situation öffnen müssen.

      Die Phase der Untersuchung – der dritte der vier Schritte – ist für die therapeutische Beziehung besonders geeignet. Obwohl wir vielleicht spüren, dass wir genauer anschauen müssen, was in uns passiert, stellen wir uns oft gerade die Fragen nicht, die uns am ehesten von einer unbewussten Identifikation mit unseren Gedanken und Gefühlen befreien könnten. Wenn zum Beispiel ein Klient von Gefühlen der Angst oder Verletzung besessen ist, kann der Vorschlag, der Frage nachzugehen: „Was glaube ich in diesem Moment?“, die Geschichten persönlichen Versagens oder Misstrauens aufdecken, die diese Gefühle genährt haben. Wenn man die Überzeugung, den Glauben oder die Befürchtung bewusst benennt, kann das ihren Zugriff schwächen und eine Möglichkeit eröffnen, die Frage zu stellen: „Ist das wirklich wahr?“ Wenn ein Klient andererseits in obsessives Grübeln versunken ist, kommt er vielleicht nicht auf die Idee, sich zu fragen: „Was spüre ich in meinem Körper?“ Diese Frage kann helfen, aus Intellektualisierungen, Wertungen und mentalen Kommentaren herauszutreten, die eine echte Einsicht, „wie die Dinge sind“, verdunkeln, und unmittelbar mit dem Felt Sense von Verletzlichkeit oder Verletztheit in Kontakt zu kommen, und das kann authentisches Selbstmitgefühl entstehen lassen.

      So eine Untersuchung reicht aber allein nicht aus, um volle achtsame Präsenz entstehen zu lassen. Damit die Untersuchung heilend und befreiend sein kann, muss man an Erfahrungen mit einer freundlichen Qualität der Aufmerksamkeit herangehen. Dies bedeutet, dass man mit einem Gefühl der Fürsorge oder Anteilnahme und Wärme in Kontakt ist, und alles, was auftaucht, freundlich willkommen heißen kann. Ohne diese Herzensenergie kann eine Untersuchung nicht tiefer wirken und unsere natürliche Weisheit wecken; dann gibt es nicht genug Sicherheit und Offenheit für echten Kontakt: Selbstmitgefühl ist ein wesentlicher Bestandteil einer achtsamen Präsenz.

      Stellen Sie sich vor, dass Ihr Kind in der Schule gemobbt wurde und weinend nach Hause kommt. Was nötig ist, ist sowohl Verständnis (Untersuchung) als auch Mitgefühl. Um herauszufinden, was passiert ist und wie es Ihrem Kind geht, müssen Sie mit einer freundlichen, offenen und einfachen Aufmerksamkeit da sein. Auf ähnliche Weise erzeugt unsere Anteilnahme und Akzeptanz einen sicheren und heilenden Raum, damit die Emotionen gefühlt, untersucht und transformiert werden können, wenn ein Klient in großer Aufregung zu einer Sitzung kommt. Mit den vier Schritten bringen wir unserem inneren Leben diese intime Aufmerksamkeit entgegen. Sie weicht die Panzerung des Herzens auf und macht Selbsterforschung und letztlich Einsicht und Heilen möglich.

      Weil so viele Klienten an Scham und Selbstablehnung leiden, haben sie wenig oder gar keine Erfahrung mit Selbstmitgefühl. Bei Therapeuten beginnt unsere eigene mitfühlende Aufmerksamkeit dieses emotionale Muster aufzulösen und zu transformieren. Darauf aufbauend kultiviert das Training in Achtsamkeit allmählich die Fähigkeit des Klienten, schwierige innere Erfahrungen mit Freundlichkeit zu halten. Die Samen dieser Veränderung der Beziehung zum eigenen inneren Leben werden in der Anfangsphase der vier Schritte gelegt – mit dem Anerkennen eines schmerzhaften emotionalen Zustandes und dem Zulassen, wie er ist. Die Forschung mittels bildgebender Verfahren hat gezeigt, dass achtsame Aufmerksamkeit an sich Teile des Gehirns aktiviert, die mit Mitgefühl und Empathie zu tun haben (Cahn & Polich, 2006; Hölzel et al., 2011). Der dritte der vier Schritte – Untersuchen und bewusstes Anbieten freundlicher Aufmerksamkeit – stärkt Achtsamkeit, vertieft sie und lässt eine volle und auf authentische Weise mitfühlende Präsenz entstehen. Auf diese Weise kann man Mitgefühl wie Weisheit als wesentlichen Bestandteil achtsamer Präsenz und auch als ihre kostbare Frucht verstehen.

      Nichtidentifikation verwirklichen

      und in natürlicher Bewusstheit bleiben

      Die klare, offene und freundliche Präsenz, die mit den ersten drei Schritten wachgerufen und geübt wird, führt zum vierten Schritt: zur Freiheit, die in Nichtidentifikation besteht, und zur Verwirklichung von natürlicher Bewusstheit oder natürlicher Präsenz. Nichtidentifikation bedeutet, dass unser Selbst-Gefühl nicht mit irgendwelchen Emotionen, Sinnesempfindungen oder Geschichten darüber, wer wir sind, verschmolzen ist oder von ihnen definiert wird. Diese Erkenntnis, dass es kein statisches, stabiles Selbst gibt, ist der eigentliche Ausdruck von Weisheit und die Essenz von Freiheit (Rahula, 1982; siehe auch Kapitel 9 und 13). Identifikation hält uns in dem „kleinen Selbst“ gefangen, in dem Selbst der Trance. Wenn die Identifikation mit dem kleinen Selbst gelockert ist, beginnen wir, Lebendigkeit, Offenheit und Liebe, die unsere natürliche Bewusstheit ausdrückt, intuitiv zu erfassen und von ihr aus zu leben. Der indische Lehrer Nisargadatta Maharaj (1973) beschreibt das so:

      Liebe sagt: „Ich bin alles.“

      Weisheit sagt: „Ich bin nichts.“

      Zwischen diesen beiden strömt mein Leben (S. 269).

      Dieses Erwachen von Weisheit und Liebe (oder Mitgefühl) wirkt sich auf eine sehr unmittelbare Weise auf uns aus: Wir machen die Erfahrung, dass wir mehr Wahlmöglichkeiten in Bezug darauf haben, wie wir auf das Leben antworten – neue Möglichkeiten eröffnen sich, neue, frische Formen der Beziehung mit uns selbst, mit Menschen, die uns nahestehen, und mit Kollegen –, und wir empfinden mehr Dankbarkeit und Unbeschwertheit.

      Die ersten drei der vier Schritte verlangen bewusste Aktivität. Im Gegensatz dazu drückt der vierte Schritt das Ergebnis oder die Folge von Achtsamkeit aus: eine befreiende Verwirklichung natürlicher Bewusstheit. Obwohl diese Art von Erwachen bei manchen Menschen das Leiden der Trance ein für alle Mal beseitigen kann, entfaltet sich bei den meisten Menschen Freiheit von emotionalem Leiden eher schrittweise. Wir machen vielleicht die Erfahrung, dass wir viele Runden durchmachen, in denen wir uns in den alten Geschichten darüber verlieren, was mit uns, mit anderen, mit unserem Leben nicht stimmt – und uns dann daran erinnern, wieder zu achtsamer Präsenz zurückzukehren. Weil es ein anhaltendes und hartnäckiges „Vergessen“ gibt, braucht man oft den Glauben an sich selbst – und an Klienten –, um zulassen zu können, dass sich dieser Prozess entfaltet. Aber bei jeder Runde vertieft sich das Verständnis, dass wir nicht das isolierte, mangelhafte und bedrohte Selbst sind, das unsere Geschichten zeichnen. Und mit jeder Runde tritt die Verwirklichung unseres wahren Potentials – erwachte, liebevolle Präsenz – mehr in Erscheinung.

      Heimkehr zu liebevoller Präsenz

      Und so ging es weiter für Pam. Einen Monat nach meiner Begegnung mit ihr rief sie mich an, um mich wissen zu lassen, dass Jerry gestorben war. Dann erzählte sie mir, was an dem Abend passiert war, nachdem wir miteinander gesprochen hatten. Als sie zu Hause in ihrem Apartment angekommen war, hatte sie Jerry eingeladen, ihr in ihrem stillen Gebet Gesellschaft zu leisten. „Als wir beendet hatten“, erzählte sie mir, „teilten wir uns unsere Gebete mit. Ich sagte ihm, wie sehr ich mir wünschte, dass er meine Liebe fühlt.“ Pam war einen Moment still, dann versagte ihre Stimme. „Er hatte für das Gleiche gebetet … nur umgekehrt. Wir umarmten uns einfach und weinten.“

      Pam

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