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sagte Arnie grimmig. Er sah aus, als ginge er jeden Moment hoch wie eine Rakete. «Der ist mir einiges schuldig!»

      Sorgenvoll lüftete Funze die Mütze und kraulte seine wirre Tolle. Sein loses Maul hatte ihn mal wieder tief in die Kacke geritten! Er war Geißler nach dem Bruch tatsächlich begegnet, rein zufällig, und er wusste auch noch, wo das gewesen war. Aber Arnie durfte das auf keinen Fall erfahren! Der kriegte es fertig und richtete sonst was an. Ein echter Provinzganove! Der kannte sich nicht aus in den Berliner Verhältnissen.

      Aber er war schnell von Kapee, wie sich herausstellte. «Wann und wo hast du den zuletzt gesehen?», wollte er wissen.

      «Nu mal langsam!», wich Funze aus, doch es half ihm nichts. Wie eine Schraubzwinge presste Arnies Riesenpfote seinen Arm. «Keine Fisimatenten, mein Junge! Ich will alles wissen. Alles! Ist das klar?»

      «Ich weiß fast gar nichts …», ächzte Funze schwach. Am liebsten hätte er geheult ob seiner eigenen Dämlichkeit. Er wusste, dass er den Mund nicht halten würde.

      Im Ring ging es inzwischen auf den Hauptkampf des Tages zu. Der 32-jährige Hein ten Hoff, seit fünf Jahren Deutscher Meister im Schwergewicht, musste den Wiener Joschi Weidinger besiegen, wollte er gegen den amtierenden Europameister Heinz Neuhaus antreten, der den Titel erst seit März trug. Nach seinem sensationellen Sieg gegen den Engländer Jack Gardener waren ten Hoff kaum fünf Monate als Europameister vergönnt gewesen. Es wurde Zeit, dass er den Titel zurückeroberte! Darin stimmte Kappe mit seinen beiden Sitznachbarn ausnahmsweise überein. Nachdem er Klaras Stullen vertilgt und sich mit Kaffee und ein paar Schlucken aus dem Flachmann gestärkt hatte, war er mit ihnen ins Gespräch gekommen. Während der eine ten Hoffs Laufbahn am Ende sah, setzten Kappe und sein direkter Nachbar ihre Hoffnungen auf den langen Hamburger, über dessen Größe man uneins blieb. Ob 1,91 Meter oder 1,96 Meter, war aber letztlich egal. Der Wiener, ebenfalls kurzzeitig Europameister, war jedenfalls ein ebenbürtiger Riese mit einer entsprechenden Reichweite. Hatte ten Hoff nicht sogar den gefürchteten Amerikaner Tiger Jones nach Punkten besiegt?

      Ten Hoff ließ es in der ersten Runde ruhig angehen und tastete den Gegner ab, um ihn in der zweiten Runde in die Ecke zu drängen und einen wahren Hagel von Schlägen auf ihn niederprasseln zu lassen.

      «Der macht nicht mehr lange», prophezeite Kappes Nachbar bedauernd. Immerhin war der Kampf auf zehn Runden angesetzt.

      Sechzig Sekunden Pause reichten Weidinger nicht, um sich von dem Trommelfeuer zu erholen. Angeschlagen und noch immer etwas benommen ging er in die dritte Runde. Ten Hoff nutzte die Schwäche seines Gegners und setzte ihm blitzschnell seine harte Rechte direkt aufs Kinn. Weidinger stürzte wie ein gefällter Baum und wurde unter dem tosenden Jubel des Publikums ausgezählt.

      Damit war der Tag eigentlich gelaufen, fand Kappe. Der Hintern schmerzte, und die Blase drückte. Es war also höchste Zeit, sich wenigstens die Beine zu vertreten. Gemeinsam mit dem Nachbarn, der wortreich zugab, ten Hoff unterschätzt zu haben, machte er sich an den Aufstieg. Klaras alte Einkaufstasche ließ er in der Obhut des anderen. Nur das Opernglas steckte er in die Jacketttasche.

      Vor den Toiletten standen die Männer in langen Reihen. Der Lärm der Arena drang dumpf an- und abschwellend herauf, überlagert von verzerrten Lautsprecherdurchsagen. Kappe merkte, dass er Kopfschmerzen hatte und ihm das ganze Spektakel allmählich zu viel wurde. Während er noch brav in der Schlange wartete, sprach ihn plötzlich jemand an. «Guten Abend, Herr Kappe!»

      Er brauchte einen Augenblick, um den Mann zu erkennen. «Holtefret!», sagte er erstaunt. Den hatte er hier am allerwenigsten erwartet. Ihr letztes Zusammentreffen lag mindestens vier Jahre zurück und ihr gemeinsames Abenteuer in der Wadzeckstraße am Alex fast sechs. Damals hatte der Kriminalassistent Eddie Holtefret ihm möglicherweise das Leben gerettet. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Eddie war nach der Spaltung bei der Volkspolizei im Osten geblieben. «Bist du nicht mehr bei der Konkurrenz?», fragte Kappe deshalb auch als Erstes.

      Eddie schüttelte den Kopf. «Das ist endgültig vorbei», sagte er. Es klang nicht gerade erfreut.

      Kappe musterte ihn etwas eingehender. Ein glücklicher Mensch sah anders aus. Eddie Holtefret war wohl ein Flüchtling. Spontan sagte Kappe: «Lass dich doch mal sehen! Wenn ich dir helfen kann …» Es war nur eine Phrase, wie er selbst wusste. Er mochte Eddie, aber ein ehemaliger Volkspolizist würde es nicht leicht haben.

      Eddie lächelte gequält und winkte ihm zu. «Mal sehen», sagte er. «Da drüben wartet meine Verlobte.» Weg war er.

      Vergebens hielt Kappe nach ihm und der Verlobten Ausschau. Dass es sich noch um die gleiche Braut wie vor sechs Jahren handelte, erschien ihm unwahrscheinlich.

      Nachdem Kappe sich endlich erleichtert hatte, drängte ihn nichts, sich sofort wieder hinunter in den brodelnden Hexenkessel zu begeben. Den Nachbarn, der mit ihm zur Toilette gegangen war, hatte er aus den Augen verloren, an Karl-Heinz dachte er nur flüchtig. Durch das alte Opernglas hatte er von oben einen guten Blick auf den Ring.

      Dort begann inzwischen der letzte Kampf über acht Runden: Conny Rux gegen den zwölf Jahre älteren Belgier Eugene Robert, der 23 Kilogramm mehr auf die Waage brachte, von seinen letzten fünf Kämpfen jedoch vier verloren hatte. Aber auch Rux war vor zwei Jahren hier in der Waldbühne von Tiger Jones in der fünften Runde k. o. geschlagen worden. Kappe erinnerte sich noch gut an seine Enttäuschung.

      Es wurde ein harter Kampf. In der fünften Runde ging Rux nach einer vollen Rechten des Belgiers zu Boden. Verärgert wandte sich Kappe ab. Jetzt bedauerte er es, nach ten Hoffs Sieg nicht gleich gegangen zu sein. Jeden Augenblick konnten sich die Massen in Bewegung setzen, und dann würde es unmöglich, im Gegenstrom zu seinem Platz zurückzugelangen. Es war allemal gescheiter, sich unverzüglich auf den Weg zur S-Bahn zu machen, bevor der große Ansturm einsetzte.

      Die Tasche fiel ihm ein. War die es wert, sich in ein hoffnungsloses Getümmel zu stürzen? Klara besaß mindestens drei davon. Das olle Ding stellte keinen echten Verlust dar, und auch die verbeulte Thermosflasche ließ sich leicht ersetzen. Die wirklich wichtigen Dinge wurden am Mann getragen. So war Kappe noch nie etwas gestohlen worden. Klara dagegen hatte man im Laufe der Jahre zweimal das Portemonnaie geklaut und einmal die Wohnungsschlüssel. Aus reiner Gewohnheit tastete Kappe nach Polizeimarke, Brieftasche und Schlüsselbund. Alles war an seinem Platz. Beruhigt setzte er seinen Weg fort. Die ersten eiligen Heimkehrer stürmten an ihm vorbei. Hundert Meter vor dem S-Bahnhof merkte er, dass es zu regnen begann. Das Regencape! Klara würde wegen der unförmigen Pelle einen Heidenspektakel veranstalten. Resigniert schlug Kappe den Jackettkragen hoch. An Karl-Heinz dachte er nicht mehr.

      MENSCHENRAUB

      HILDEGUND HRIBAL saß an ihrem Arbeitsplatz und träumte. Nicht gerade von besseren Zeiten, aber wenigstens vom bevorstehenden Pfingstfest. Das bescherte ihr zweieinhalb freie Tage. Sie freute sich darauf, zumal laut Wetterbericht angenehme Temperaturen und Sonne zu erwarten waren. Wölfchen hatte versprochen, mit ihr an die Havel zu fahren. Vielleicht würden sie essen und eventuell auch tanzen gehen. Bei Wölfchen wusste man nie, wie er gerade bei Kasse war. Das wechselte in letzter Zeit. Bei ihr war das anders, da herrschte immer Ebbe im Geldbeutel. Das kleine Gehalt reichte nur für das Notwendigste. Immerhin war sie für Montagabend zum Nachtdienst eingeteilt worden und erhielt so einen kleinen Zuschlag. Sie musste Wölfchen nur beibringen, dass solche Dienste nun mal zu ihrem Beruf gehörten.

      Ohne wirklich hinzusehen, blickte Hildegund hinüber auf die grauen Fassaden der Messehallen, die jenseits der breiten Allee in der Mittagssonne glänzten. Lehnte sie sich ein wenig zurück, konnte sie sogar die winzigen Gestalten auf dem Funkturm erkennen, die von der Aussichtsplattform auf das schiffförmige Klinkergebäude hinunterschauten, in dem sie an ihrem Schreibtisch darauf wartete, dass ein vor Aufregung schwitzender Jungredakteur ihr stammelnd einen Kommentar diktierte. Darin würde er zum tausendsten Mal in mäßigem Deutsch das «Kriegstreiberregime da draußen» madigmachen. Direkt vor ihren Augen lag der böse, wilde Westen mit den vielen Arbeitslosen – und mit all jenen Verlockungen, denen Hildegund insgeheim ganz gerne erlegen wäre. Sie seufzte. Vielleicht ergab sich einmal eine Gelegenheit …

      Aus

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