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      Helen Braasch

      IM OSTEN GEHT DIE SONNE UNTER

      10 Erzählungen aus der DDR-Zeit

      Engelsdorfer Verlag

      Leipzig

      2016

      Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

      Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

      Alle Rechte bei der Autorin

      Titelillustration: Sammlung LUNIKORN

      Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

      1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

       www.engelsdorfer-verlag.de

      ISBN (mobi) 978-3-960083-31-3

      ISBN (epub) 978-3-960083-21-4

      INHALT

       Cover

       Titel

       Impressum

       Der sozialistische Mensch

       Bevor es zu spät ist

       Zweimal verraten

       Fräulein Funda’s Diplomthema

       Zum Wachregiment

       Im Angesicht der Grenze

       Schiffbrüchig und mit Mäusen

       Jack

       Eine scheinbar glückliche Ehe

       Die Suche nach der Sonne

      Dienstschluss. Der warme Junitag lacht noch sonnentrunken zur Tür herein und wundert sich ob der Menschen, die, anstatt hinauszugehen, eine Treppe höher steigen. Auch die Genossen der SED würden lieber nach Hause fahren, als in einer Versammlung zu dösen. Im Konferenzraum in der ersten Etage des vor einigen Jahren erbauten Gebäudes das allgemeine Händeschütteln. Hatte man sich nicht erst heute gesehen? Die Teilnehmer finden ihren Platz. Genosse König eröffnet das Parteilehrjahr. Es sollten mal wieder, wie jeden zweiten Montag im Monat, die Genossen, aber auch ausgewählte, sozusagen privilegierte Parteilose politisch-ideologisch auf Linie gebracht werden.

      Henrike lässt sich im Stuhl zurücksinken und schaut erwartungsvoll auf die weichliche Gestalt von König. Wie ist er unsympathisch! Die Haut grau, die Haare strähnig, der Körper etwas dicklich, der Anzug altmodisch. Er wirkt wie ein übermäßig gestresster Funktionär. Sie sieht es gelassen und ist nach ihrer Krankschreibung gleichsam nervlich erholt. Was wird er sagen? Das Thema verlangt ein Bekenntnis, wie sie alle, die sozialistischen Menschen, sein müssen, um den Anforderungen des letzten Parteitages gerecht zu werden. Der Parteitag ist das höchste Organ der Partei. Die Parteitage sind das Maß aller Dinge und werden auf allen Ebenen bis hin zur untersten Arbeitsgruppe ausgewertet. Was der Parteitag beschließt ist Staatsangelegenheit und für jeden maßgebend. Sich immer mit der Strömung treiben lassen.

      Der ‚sterbende Kapitalismus’ steht heute nicht auf der Tagesordnung. Noch nicht. Wie muss der sozialistische Mensch sein, um die vom Parteitag gekennzeichneten Aufgaben zu bewältigen? Henrike sieht die Genossen der Reihe nach an: den aufgeblähten Manta, den abgemagerten Kupferschmied, die dicke Nanette, den rothäutig angehauchten Chef, die braunfleckige Rollau und die anderen. Wieder stören sie an der Rollau deren dicke, ewig wackelnde Daumen. Deren tastender Blick gleitet gleich Stielaugen von einem Blatt Papier zum anderen, welches die Teilnehmer vor sich liegen haben. Henrike folgt ihm wie magnetisiert und schaut ihr dann voll ins Gesicht. Verlegen guckt die Rollau dann auf ihr eigenes Papier. Immerhin, sie spielt in diesem Haus eine wichtige Rolle.

      Wie muss der sozialistische Mensch sein? Henrike zuckt zusammen. Sie ertappt sich bei dem Gedanken, die Kollegen und Genossen durch den Kakao zu ziehen. Wie steht es mit deren Ehrlichkeit, ihrer kollektiven Haltung, ihrer Menschlichkeit, ihrer Sachlichkeit? Warum will die Rollau nicht zur Parteischule, obwohl sie keinerlei Ausbildung hat, aber bei Einstellungen, Entlassungen und Qualifizierung ein entscheidendes Wörtchen mitredet und dafür auch noch gut bezahlt wird? Offensichtlich hat sie gute Kontakte. Die Fäden werden im Untergrund gezogen. Henrike drängt ihre Gedanken zurück. Sie will nicht lästern. Sie will nicht mit Steinen werfen. Wenn sie an den Tiefen rührt, wird der Kessel brodeln. Sie fühlt ihren schmerzenden Magen und gedenkt der ruhigen Tage auf ihrem Balkon. Sie wird sich alles gelassen anhören und sich selbst keine Blöße geben.

      König ist mit seiner eröffnenden Ansprache bereits am Ende. Hatte er gesagt, dass sich der sozialistische Mensch in allen Lebensbereichen im Einklang mit den Zielen der Partei zu befinden hat? Entgegen ihrem Willen hatte Ulrike nicht gut aufgepasst. Er versprach sich zwei Dutzend Male, fordert nun zur Diskussion auf. Keiner will sprechen. Komisch, der Chef sagt auch nichts. Wie ein Fels in der Brandung sitzt er ungerührt in seinem Sessel. Oder hat ihm der Tag zu viel zu schaffen gemacht? Wer klug ist, der schweigt.

      König fragt Nanette, die Sekretärin: „Was meinst Du dazu?“ Nanette sitzt auch da wie ein dicker Stein und ist nicht einmal erschrocken. „Ich meine, wir müssen alle unser Bestes geben, damit die vom Parteitag beschlossenen Maßnahmen erfüllt werden können. Ich meine, damit wir alles besser machen können, wir müssen alles machen und …“, sie findet den Schluss nicht und sagt schließlich noch „tun.“ „Wie recht sie hat“, denkt Henrike, vielleicht meint sie es ehrlich, die Dicke. Vielleicht sollte man die Partei von den Gaunern befreien, von denen, die nur Vorteile wahrnehmen und sich vor gesellschaftlichen Anliegen drücken, besonders vor unangenehmen Aufgaben.

      Die Rollau überschlägt sich beinahe. Sie findet es unmöglich, dass manche Menschen sich ihren Vorteil ausrechnen, der aus einer Rentenerhöhung entspringt. „Ich kann das nicht verstehen. Die Maßnahmen der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung sind doch für die Allgemeinheit. So ein Egoismus, wenn jemand anfängt zu rechnen.“ Genosse Manta kann kaum noch an sich halten: „Die Genossin Rollau hat mir ganz aus dem Herzen gesprochen. Alle betrifft es. Unseren Kindern wird die Rentenerhöhung noch zugute kommen. Warum bei der Freiwilligen Rentenversicherung seinen Vorteil ausrechnen! Alle sollten einfach beitreten!“

      Henrike ertappt sich, wie ihre Gedanken abschweifen. Mantas Stimme verklingt ihr stets wie der Ruf im Walde. Wenn diese Rentenversicherung so gut ist, warum betreibt die Partei so einen Rummel darum? Die freiwillige Teilnahme wird zur ideologischen Angelegenheit hochstilisiert. Hat die Partei Angst, dass es ein Fehlschlag wird? Das macht es in Henrikes Augen suspekt. Ihr Mann sagte kürzlich dazu: „Bis wir Rente bekommen, herrscht hier ein vollkommen anderes Rentensystem.“ Henrike

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