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Das Geheimnis vom Oranienburger Thor. Horst Bosetzky
Читать онлайн.Название Das Geheimnis vom Oranienburger Thor
Год выпуска 0
isbn 9783955520366
Автор произведения Horst Bosetzky
Издательство Автор
Sie kamen durch Perleberg hindurch und grüßten das Roland-Standbild. Schließlich standen sie in Wittenberge auf dem Bahnhof und warteten auf den Zug aus Hamburg.
»Gerade einmal vor sechs Jahren hat die Bahn von Hamburg nach Berlin den Betrieb aufgenommen«, sinnierte Gontard. »Und mir scheint es schon eine Ewigkeit her zu sein, dass wir die Strecke von Wittenberge nach Berlin mit der Postkutsche zurückgelegt haben.«
»Daran siehst du, Vater, dass sich in der Welt doch so einiges ändert«, sagte der siebzehnjährige Ferdinand. »Der Ökonom Friedrich List wird schon recht haben mit seiner Annahme, dass der Eisenbahnbau die Zollschranken in Deutschland überwindet und wir irgendwann doch noch ein einiges Reich bekommen.«
»Das mag vielleicht eintreten, Ferdinand, aber ob die Bürger dann mehr Rechte und Freiheiten haben, sei dahingestellt.«
Henriette verdrehte die Augen. »Ihr immer mit eurer Politik! Denkt an Goethes Worte: Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!«
Luise, fünfzehn Jahre alt, brachte das Gespräch auf Prinzessin Charlotte von Preußen, die vor zwei Jahren den Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen geheiratet hatte. So fröhlich hatte Gontard seine Tochter selten erlebt. »Nach der Hochzeit hat der König dem Ehepaar gestattet, im Nordflügel des Potsdamer Marmorpalais zu wohnen, und von ihrer Mutter hat die Prinzession die Villa Carlotta in Italien übereignet bekommen. Einem Sohn hat Charlotte auch bereits das Leben geschenkt, Bernhard heißt er.«
Ferdinand sah seine Schwester an. »Denkst du etwa, der könnte dich dermaleinst heiraten? Bei dem Altersunterschied halte ich das eher für unwahrscheinlich.«
Unter den Geschwistern entspann sich ein Zank, und es verging eine Weile, ehe Luise erzählen konnte, warum sie Charlotte von Preußen so überaus schätzte. »Sie ist ungeheuer musikalisch, und sie komponiert sogar selbst.«
»Da kommt der Zug!«, rief Ferdinand, der in Richtung Nordwest eine hoch in den Himmel steigende Rauchfahne entdeckt hatte.
Gontard war es zwar gelungen, Billetts für die erste Klasse zu erwerben, sie mussten das Abteil aber mit zwei Fremden teilen, was die familiäre Konversation erheblich erschwerte. Doch sie hatten Glück, denn der Herr am Fenster, der nicht viel älter als dreißig Jahre alt sein mochte, stellte sich als Eduard Titz vor. »Architekt und Baumeister aus Böhmen.«
»Angenehm!« Gontard stand auf und verbeugte sich. »Natürlich wissen wir, welch berühmte Persönlichkeit Sie sind. Spätestens, seit das Friedrich-Wilhelm-Städtische Theater vor zwei Jahren eröffnet worden ist, kennt in Berlin nahezu jeder Ihren Namen.« Gontard machte auch seine Frau und seine Kinder mit Eduard Titz bekannt, dann fragte er den Architekten, mit welchen Aufträgen er derzeit beschäftigt sei.
»Einen Bebauungsplan für Köpenick soll ich erarbeiten, vor allem aber hält mich gerade Krolls Etablissement auf Trab.« Das war im vergangenen Jahr völlig abgebrannt, und Titz war der Wiederaufbau übertragen worden.
»Für diese Arbeit sollte man Ihnen zum nächsten runden Geburtstag den Rothen Adler-Orden verleihen«, fand Henriette.
Titz lachte. »Ich kann mir nicht einmal sicher sein, wann mein nächster runder Geburtstag ist. Niemand weiß genau, in welchem Jahr ich auf die Welt gekommen bin, vom Tag ganz zu schweigen. Es muss 1819 oder 1820 gewesen sein.«
Henriette lachte. »Es heißt doch immer, man sei so alt, wie man sich fühle.«
»Wenn ich danach ginge, wäre ich erst sieben Jahre alt und säße im Sandkasten, um Pyramiden, Burgen und Schlösser zu bauen, wobei …« Er brach ab, denn der Zug bremste so abrupt, dass alle nach vorne gerissen wurden und beinahe von ihren Sitzen fielen.
»Wahrscheinlich stand eine Kuh auf den Schienen«, vermutete Luise, nachdem der erste Schreck vorüber war.
»Nein, bestimmt ist die Lok entgleist!«, rief Ferdinand. »Wir werden bis Berlin alle schieben müssen.« Dann gab er Geschichten über die schrecklichsten Unfälle zum Besten, die es in aller Welt gegeben hatte, seit Dampfrösser über die Schienen glitten. Ferdinand wollte einmal Ingenieur werden und zu Borsig oder einer der Eisenbahngesellschaften gehen und war der Ansicht, dass man aus Katastrophen viel lernen könne. »Das erste Todesopfer hatte man schon am 15. September 1830 in England zu beklagen, in Newton-le-Willows. Am Eröffnungstag der Liverpool and Manchester Railway hat die legendäre Rocket einen Mann überfahren und tödlich verletzt. Acht Tote und achtzehn Schwerverletzte hat es am 24. Dezember 1841 gegeben, wiederum in England, als bei Sonnig eine Zugfahrt durch einen Erdrutsch jäh gestoppt wurde. Das ist aber nichts gegen das Unglück, das sich am 8. Mai 1842 in der Nähe von Versailles ereignet hat: Der Personenzug nach Paris ist nach einem Achsbruch an der Vorspannmaschine entgleist, fünfzig Menschen sind verbrannt, unzählige wurden verletzt.«
In diesem Augenblick meldete sich die Dame zu Wort, die bis eben schweigend und mit geschlossenen Augen Eduard Titz gegenüber am Fenster gesessen hatte. »Hören Sie endlich mit Ihren scheußlichen Geschichten auf, junger Mann, sonst ziehe ich mein Terzerol aus der Tasche und zwinge Sie zum Verlassen des Zuges! Ich halte das nicht mehr aus!«
So, wie sich die Dame präsentierte, vermutete Gontard, dass es sich um eine Schauspielerin handelte. Um ihr zu schmeicheln und um sie zu beruhigen, fragte er, ob sie in Berlin nicht kürzlich auf der Bühne gestanden habe.
»Ihre Frage ehrt mich, aber den Traum von einer Laufbahn als Schauspielerin habe ich schon lange aufgegeben. Vor acht Jahren habe ich zwar einen Ruf ans Berliner Hoftheater erhalten, um dort – als Sängerin wie als Schauspielerin – die Nachfolge von Amalie Wolff-Malcomi anzutreten, wegen meiner familiären Pflichten habe ich aber abgelehnt und mich ganz der Ausbildung meiner drei Töchter gewidmet, die alle auf die Bühne wollen.«
»Dann sind Sie Henriette Schramm-Graham!«, entfuhr es Gontards Frau.
»So ist es.«
Damit war die Stimmung im Abteil wiederhergestellt, und der Rest der Fahrt verging wie im Flug. Im Nu waren die Zwischenstationen Wilsnack, Glöwen, Friesack, Paulinenaue und Nauen passiert. Als sie in Spandau hielten, zog Gontard seine Taschenuhr hervor. »Paul Quappe wird bestimmt schon am Hamburger Bahnhof stehen, um uns in Empfang zu nehmen.«
Doch als sie dort ankamen, war Gontards Bursche, den man in Berlin zurückgelassen hatte, um das Haus in der Dorotheenstraße zu bewachen, nirgends zu entdecken.
»Hat der uns doch glattweg vergessen!«, schimpfte Gontard. »Der Kerl hat wirklich nur Flausen im Kopf. Wahrscheinlich hockt er wieder bei seinem Vater in Schönschornstein.«
Zum Glück gab es genügend Dienstmänner, die Koffer und Taschen der Gontards zu einer der bereitstehenden Droschken schaffen konnten. Der Heimweg führte sie zuerst ein Stück die Invalidenstraße entlang, dann bogen sie rechts am Neuen Thor in die Luisenstraße ab und fuhren auf ihr bis zum Karlplatz, um dann auf der Karl- die Friedrichstraße zu erreichen. Zur Dorotheenstraße war es nun nicht mehr weit.
Es wäre Paul Quappes Pflicht gewesen, wenigstens jetzt vor der Haustür zu stehen und auf die Familie zu warten, aber er war nicht zu sehen. Das neue Dienstmädchen würde erst morgen Vormittag in Berlin eintreffen, mit ihm war ohnehin nicht zu rechnen gewesen.
Der Kutscher stapelte all das Gepäck auf dem Bürgersteig, wurde entlohnt und eilte von dannen. Gontard bummerte gegen die Haustür und rief nach Quappe, doch nichts geschah. »Warte, Bursche!«, brummte Gontard, so gutmütig er sonst auch war. »Dafür gehörst du für eine Nacht in die Hausvogtei.«
Was blieb ihm, als selbst aufzuschließen? Doch als er den Haustürschlüssel herumdrehen wollte, merkte er, dass gar nicht abgeschlossen war. Auch das noch! Er stieß die Tür auf – und fuhr zurück. Vor ihm auf dem Boden lag Paul Quappe in einer Blutlache.
Dr. Friedrich Kußmaul war Gontards ältester und bester Freund und erwartete diesen schon fast sehnsüchtig aus Wutike zurück. Gern hätte er die Familie