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aus’m Kaufhaus des Westens … Nichts Besonderes?«, murmelt unser Gast verwirrt und lässt sich nun doch endlich auf seinem Stuhl nieder. Seine Bewegungen sind sehr langsam, als würde er unter Beruhigungsmitteln stehen.

      Meine Mutter tut Franz nun zu essen auf, der sich manierlich bedankt, gießt ihm Wein ein, und fragt ihn, woher er denn komme. Und Franz antwortet recht kohärent, dass seine Eltern in Lüneburg leben, seine ältere Schwester jedoch in Kiel, mit Mann und zwei Kindern. Letztes Jahr war er sogar einmal da gewesen.

      Mein Vater steht zwischendurch auf, bläst ein paar heruntergebrannte Weihnachtskerzen aus und ersetzt sie durch neue. Meine Eltern sind stolz darauf, ihren Baum nicht mit elektrischen Kerzen zu schmücken.

      Franz scheint der Wein gut zu schmecken, auch die Nudeln hat er verdrückt, nur sein Fleischstück schiebt er, wie mir jetzt auffällt, ständig auf seinem Teller hin und her. Als ich mich einmal weit über den Tisch beuge, um mir eine Schüssel mit eingelegten Artischockenherzen zu nehmen, höre ich, wie er, während er mit der Gabel auf dem Teller herumfuhrwerkt, murmelt: »Hab ich dich endlich, du Sprechender Waschlappen! Mach mal ‚Piep‘! Sag mal ‚Ah‘!«

      Mein Vater, der das nicht gehört hat, fragt Franz nun, wo er denn das letzte Jahr Weihnachten gefeiert hätte. Und Franz erzählt, dass er bei »so ’ner janz normalen Familie« in Neukölln in einem Partykeller gesessen hat. Um gleich ihre Solidarität mit den Proleten aus Neukölln unter Beweis zu stellen, ruft meine Mutter übertrieben euphorisch: »Ach, Neukölln! Da geh ich so gern auf den Markt!« Falk und ich werfen uns wieder einen langen Blick zu: Auf den Markt am Hermannplatz geht unsere Mutter ungefähr einmal im Jahr. Und auch nur dann, wenn sie vorher direkt nebenan bei Karstadt in der Stoffabteilung gewesen ist.

      »Und gab’s da auch Sprechenden Waschlappen als Hauptgericht?«, fragt Falk sanft. So sanft, dass meine Eltern erst mit ungefähr dreisekündiger Verzögerung erschrocken hochblicken. Franz beginnt jetzt breit zu grinsen. Dann steht er überraschend schnell auf, eilt auf Falk zu, umarmt ihn und küsst ihn links und rechts auf die Wange. Falk macht eine kurze ‚Okay, ist genug‘-signalisierende Handbewegung, die Franz beschämt oder gespielt beschämt zur Kenntnis nimmt; er geht wieder sehr langsam auf seinen Platz zurück. In diesem Moment geht ein wildes Geläute, Geklingel und Gerassel über ihm los. Der Luftstoß seiner plötzlichen Bewegungen hat die Installation des norwegischen Künstlers in Gang gesetzt.

      Tiefe und helle Töne, metallisch und sehr weich klingende, abgehackte und lang gezogene durchweben die Luft, als wäre sie ein einziger riesiger Klangteppich.

      Ich kenne das schon zu Genüge, und höre gar nicht mehr auf die immer neue Geräusch-Sinfonie, zu der die einzelnen Klänge verschmelzen.

      Franz starrt mit offenem Mund an die Decke. Er dreht sich nun im Kreis, den Kopf hochgereckt. Dann hebt er die Hände und macht Schwimmbewegungen. Es ist eindeutig, dass er nicht ganz bei Trost ist, aber meine Eltern geben sich wie immer unbeirrt. »Wo ham Se denn dat gelernt?«, fragt mein Vater mit etwas schrillerer Stimme, als er vermutlich beabsichtigte. »Luftschwimmen«, murmelt Fritz. »Luftschwimmen, Luftschwimmen, Luftschwimmen. Erst Luftgitarre. Boooing! Dann Luftschwimmen. Dann Luftbeten. Zum Klettergerüst.«

      Nun macht Falk einen Riesenfehler. Er ruft laut: »Da sind Jana und ich als Kind manchmal dran hoch!«

      Das stimmt zwar, aber doch auch wieder nicht, denn damals hing die Installation noch nicht an der Decke des Berliner Zimmers, sondern stand beziehungsweise lag im Flur, wo sie in eine Art seltsame, begehbare Möbel-und-Kunst-Landschaft, die unser Vater eigens für uns eingerichtet hatte, integriert war. Meine Eltern wollten uns Kleinkindern Kunst nahe bringen, indem sie begehbare Kunstwerke kreierten, und manchmal auch solche, die eigentlich nicht zur Begehung gedacht waren, eigenhändig ummodelten.

      »Echt? Immer schön raufgeklettert?« Franz dreht sich abrupt um. Er schaut von Falk zu mir und wieder zurück, wie in Zeitlupe, in Trance. Ich spiele jetzt, während ich ihn beobachte, eines meiner Lieblingsspiele. Ich habe es ‚Zeitverschiebung’ getauft. Ich denke mir stets, dass der gegenwärtige Moment eigentlich höchst unwichtig ist, und stelle mir jedermann in meiner Umgebung in allen möglichen Lebensaltern vor. Meine Großmutter als Backfisch, meinen Vater als kämpferischen Studenten, meine Mutter als quengelndes Kleinkind, Falk als liebenswürdigen, aber auch sehr eigenen alten Mann. Die realen Lebensalter, die wirklichen Altersunterschiede zueinander scheinen mir aus einer größeren, weiteren Perspektive höchstirrelevant. Wenn wir über das Zeitalter der Dinosaurier sprechen, unterschlagen wir schnell ein paar Millionen Jahre aber bei uns sollen fünf Jahre plötzlich die Welt sein. Ich stelle mir Franz als noch ungelenkes Kind vor, als schlaksigen, Gitarre spielenden Teenie … Ein Träumer, begabt in Musik und Mathe, ja, auch in Mathe, ein ungewöhnliches Kind, nur sehr introvertiert und ohne großen Ehrgeiz. Dann frage ich mich, warum er wohl zum Landstreicher wurde. Und ich weiß, dass jeder bei uns am Tisch brennend an dieser Frage interessiert ist aber wir sind zu feige und zu höflich, um solch eine im Grunde nahe liegende Frage einfach geradeheraus, ohne psychologisches Klimbim, ohne komplizierte Entschuldigungs-Manöver zu stellen.

      Plötzlich ruft Franz: »Ich bin oben bei euch!« Im nächsten Moment steht er auf unserem Tisch, ein Bein verfehlt nur knapp das Art-déco-Kännchen, dann greift er nach einer Metallstrebe, an der viele Glöckchen baumeln. Er hält sich daran fest und wir trauen unseren Augen nicht fängt an, wie Tarzan durch den Raum zu schwingen.

      Seltsamerweise schweigen meine Eltern. Sie brüllen nicht los, sie rufen Franz nicht zur Räson, sie finden auch keinen Dreh, um der Situation noch irgendwie etwas Kühnkreativ-Anarchisches abzugewinnen. Sie schweigen. Sie sitzen einfach nur da und schauen zu. Falk und ich sehen uns unsicher an. Mein Bruder ärgert andere gern auf diese oder jene Weise, aber wenn es wirklich hart auf hart kommt, ist er sehr menschlich. Plötzlich fangen meine Mutter und mein Vater simultan an zu weinen. Sie sitzen drei Meter auseinander an unserem riesigen Tisch und fangen im selben Moment an zu weinen. Franz ruft »Hollaaaa! Hallloo!«, und schwingt mit höchstzufriedenem Gesicht durch unser Berliner Zimmer. Hier und da knallt er mit einem Bein gegen eine Vase oder einen Bilderrahmen. Ich höre es schon von der Decke her knacken. Er könnte jeden Moment mit der Installation zu Boden stürzen. Falk steht jetzt auf und legt einen Arm um unseren Vater. Ich greife nach der Hand meiner Mutter. Mein Vater legt seinen Kopf auf den Tisch und schluchzt.

      Plötzlich, wie ich hier so sitze und das bedrohliche Knacken an der Decke höre, weiß ich, dass ein Lebensabschnitt meiner Eltern ein für alle Mal zu Ende gegangen ist.

      »Soll ich ihn da runterholen?«, fragt Falk unseren Vater.

      Aber der reagiert nicht.

      Im nächsten Moment gibt es einen unglaublichen Krach: Franz ist mitsamt der riesigen Installation und allen Glöckchen, Klingeln, Rasseln, Pfeifen und Schellen zu Boden gegangen. Meine Mutter löst sich endlich aus ihrer Paralyse und rennt zu Franz hin. Franz liegt unter der riesigen Installation, die mit ihren vielen, in alle Richtungen weisenden Streben jetzt etwas von einer verunglückten Spinne hat, begraben und scheint ohnmächtig zu sein. Meine Mutter schlägt ihn sanft auf die Wangen, zwickt ihn in die Oberarme. An der Decke klafft ein schreckliches Loch, Deckenfüllung, Dämmwolle fallen heraus, bröseln nach unten.

      Jetzt schlägt Franz die Augen auf. Er schaut meine Mutter stirnrunzelnd an. Dann schüttelt er den Kopf und murmelt: »Dideldum. Der Plumpsack geht um.« Er runzelt seine Stirn noch stärker und wiederholt knurrend: »Der-Plumpsack-geht-um!«

      Vor meinen inneren Augen sehe ich meine Eltern jetzt als altes Paar. Sie gehen zu meiner Überraschung richtig fröhlich durch einen Park. Meine Mutter in unspektakulären hellbraunen Oma-Halbschuhen, in einem langen taubengrauen Mantel, die Haare jedoch in ihrem üblichen Kupferrot nachgefärbt. Mein Vater trägt ebenfalls einen taubengrauen Mantel, eine anthrazitfarbene Anzughose, tatsächlich mit Bügelfalte, und zu meiner Überraschung ein kleines, elegantes schlohweißes Menjoubärtchen.

      Für eine Sekunde sehe ich Franz im Alter von vielleicht fünf in einem Kinderheim. Alle Kinder sollen ‚Die Reise nach Jerusalem‘ spielen, aber Franz hat keine Lust, den Spiel-Verordnungen von oben zu folgen, und erschreckt die anderen Kinder, indem er in einem immer enger werdenden Kreis um

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