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und methodischen Einarbeitung, einer Bachelorarbeit zum Thema, erster ethnographische Probeversuche und dem Versuch sich mit anderen Gruppen zu vernetzen, habe ich mein erstes Bewerbungsgespräch in einer psychiatrischen Klinik, in der ich sowohl ein Praktikum als auch eine ethnographische Feldforschung machen will.

      Der impliziten Anrufung der ›ordentlichen Erscheinung‹ gehorchend wurde aus meinem Sidecut eine ordentliche Kurzhaarfrisur, ich war geduscht, rasiert und nicht in kaputter Baggy und Kapuzenpullover, sondern in Hemd und Hose gekleidet. Ich fühle mich dabei immer ein wenig unwohl, wenn ich mich so ›verkleiden‹ und als ›ordentliche‹ Person präsentieren muss.

      Von einer Pflegerin am Empfang abgefangen, werde ich zum Warten auf eine Stuhlreihe vor das Büro geschickt, in dem ich meinen Termin habe. Warten ist das erste zentrale Ritual der Psychiatrie, das ich damit vor der Tür der Psychologin kennenlerne. Es ist ein Warten, das besonders auf Seiten der Patient*innen die quälende Last der Langeweile produziert. Es ist ein Warten, das das Vakuum zwischen den festgelegten Zeiten, der festgelegten Gespräche und der festgelegten Aktivitäten durch sein eigenes Nichts verkörpert – es beinhaltet vielleicht sogar den horror vacui, die Angst vor der Leere, der Leere und des Stillstands des eigenen Lebens.

      Ohne zu wissen, ob ich nicht auch von selbst hereingebeten werden würde, ergreife ich selbst Initiative und klopfe pünktlich kurz nach 9 Uhr an die Tür. Eine adrette, ältere, brillentragende, weißhaarige Dame in weißem Kittel (die entweder versucht das Klischee ihrer Profession abzubilden oder an der sich dieses Klischee orientiert) begrüßt mich freundlich mit Nachnamen und bittet mich herein. Obwohl ich in unserem E-Mailverkehr den Eindruck gewonnen hatte, dass ich das Praktikum auf jeden Fall machen könne, inszeniert sie doch ein wirkliches Bewerbungsgespräch, indem sie immer wieder skeptisch abschätzend und irgendwie auch abschätzig mit mir meinen Lebenslauf, mein Bewerbungsschreiben und meine ›gesellschaftskritische Haltung‹, die ich in meinem Lebenslauf nicht versteckten wollte, diskutiert; gleichzeitig erwähnt sie von sich aus Widersprüche der Psychiatrie (gesellschaftliche Probleme nicht im Individuum lösen zu können) und zu kritisierende Zustände (die stetigen Kürzungen im sozialen Bereich sowie den Anspruch auf Effizienz der Behandlung auf Seiten der Krankenkassen). Dies ist ein Habitus der Selbstreflexion und Selbstkritik, den ich nicht erwartet habe, dem ich aber immer wieder in der Psychiatrie begegne; es gibt eine Art kollektives Gedächtnis, welches die Angriffe auf ihre Praxis und Profession konserviert (denn die Geschichte der Psychiatrie war immer schon eine Geschichte der Antipsychiatrie; Brink 2010, Foucault 2005), und ein Bewusstsein für die gesellschaftlich vorherrschenden Vorurteile gegenüber der psychiatrischen Institution (der »Stigmatisierung der Klinik«, wie es mal ein Arzt mir gegenüber bezeichnete).

      Ihr war auch wichtig, noch einmal mit Nachdruck die Schwierigkeit der Arbeit mit »diesen Leuten« zu erwähnen und dies an die Frage zu koppeln, ob ich mir das auch zutrauen würde. Meines Erachtens lässt sich hier eine Beziehung zu der von Mentzos (1976) so bezeichneten »institutionalisierten Abwehr von Angst« herstellen. Die Psychiatrie übernimmt nicht nur die Aufgabe einer institutionellen Abwehr, sondern sie produziert und inszeniert auch einen angstbesetzten Raum, den Mythos von Arnsdorf, eine Drohkulisse, um für alle eine Abschreckung zu sein; um ein Ort zu sein, an dem niemand sein will und von dem alle wegwollen, wenn sie doch mal dort gestrandet sein sollten. Die Funktionalität für die Psychiatrie der Gegenwart liegt hier in ihrem Gegensatz zum Asyl, das sie gerade nicht mehr langfristig gewähren will; denn obwohl der moderne Mensch in einer Klinik geboren wird und in einer Klinik stirbt, so soll er doch nicht in einer Klinik wohnen. Die Klinik braucht die Unheimlichkeit, auch um nicht ›heimisch‹, um kein alternatives Heim zu sein. Ein weiteres grundsätzliches, immer wiederkehrendes Ritual der psychiatrischen Praxis wird ebenfalls in der Aussage der Psychologin deutlich. Es ist die Produktion einer Dichotomie zwischen Normalität und Wahnsinn, der Patient*innen (»dieser Leute«) und der Normalen (»uns«). Es ist wahrscheinlich auch dieses ›Othering‹, diese Distanzierung, Verfremdung und Exotisierung, die nicht nur das gesteigerte Interesse am Pathologischen, sondern auch die Angst vor selbigen hervorbringt.

      Zur Verabschiedung führt sie mich hinaus auf den Gang und in das Stationszimmer, das, wie ich später erfahre, von allen ›Stützpunkt‹ genannt wird und damit in mir eine, vermutlich ungewollt, militärische Assoziation wachruft. Hier händigt sie mir ein paar Informationsmaterialien aus, die gewöhnlich den Patient*innen gegeben werden. Vor allen Anwesenden betont sie noch einmal, dass diese aber auch für die »andere Seite« interessant wären und erklärt damit den Pflegerinnen, die mich und den Vorgang nur beiläufig beobachten, dass ich auf ›ihre‹ Seite und nicht auf die der Patient*innen gehöre.

      Das Letzte, was ich sehe, als ich das Gelände dann verlasse, ist ein parkendes Polizeiauto in der Einfahrt für Notfälle, was ich irgendwie schon fast zu plakativ in seiner Symbolik finde. Das Polizeiauto, als Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols, steht ›versteckt‹ hinter dem Klinikgebäude und ist hier trotz der Unscheinbarkeit das Bindeglied verschiedener Sicherheits-, Ordnungs- und Kontrollsysteme.

      Nun beginnt ein Warten, das sich für mich über ein ganzes Jahr erstreckt, das Warten auf den Beginn des Praktikums. Je nachdem wie dringlich sie erscheinen oder sie sich präsentieren, sind es für Patient*innen auf der Warteliste zwar häufig nur wenige Wochen bis Monate (so gab es z.B. während meines Praktikum mehrere Fälle in denen Patient*innen, die so bezeichnete ›Suizidkarte‹ ausspielten, das heißt ihnen wurde unterstellt, dass sie eine Suiziddrohung strategisch einsetzen, um die langen Wartezeiten zu umgehen), doch das Warten der Patient*innen in einer essentiellen Lebenskrise kennt eine eigenwillige Zeitlichkeit, das Warten auf Hilfe und Behandlung tickt nicht so gleichförmig und linear wie die Uhren an den Wänden der Klinik.

      Eintritt

      Ich hatte mir die Wochen vor dem Beginn meines Praktikums endlich mal wieder Urlaub gegönnt und temporär zu verdrängen versucht, dass ich in einer Psychiatrie arbeiten werden muss – vielleicht gleichermaßen der Angst vor der Anstalt als auch dem Unwillen geschuldet, ein weiteres Mal zum Praktikumsprekariat zu gehören und unentgeltlich arbeiten gehen zu müssen. Eine letzte Belohnung und den krönenden Abschluss dieser Ferien stellt ein Festivalbesuch dar und eng geplant, wie es sich ergeben hatte, bin ich erst morgens halb zwei wieder daheim angekommen.

      Schon auf der siebenstündigen Rückreise befinde ich mich in einem unwirklichen Zustand, psychiatrisch ausgedrückt: in einem Zustand der Derealisation und Depersonalisation. Gerade war ich noch in einer ausgelassenen und glücklichen Stimmung, habe viel getanzt und gelacht, habe alte Freund*innen getroffen und neue gemacht. Ich war eingetaucht in die Atmosphäre befreit feiernder Menschen, die sich ein paar Tage einer bunten, liebesüberströmten Heilen-Welt-Illusion hingeben. Hier waren die Menschen geschminkt und verkleidet. Sie waren so, wie sie sein wollten oder gerne wären, zwanglos und unkontrolliert, empathisch und solidarisch, hatten gedopte Körper, die nicht müde wurden, und Gedanken und Gefühle, die kurzzeitig wahrnehmen konnten, was Anderen verborgen blieb. Es war die Zelebration des kollektiven Ausnahmezustands. Es war ein Festival der Sinne und der Sinnlichkeit, mit vielerlei Unsinn und noch mehr Bedeutung. Doch nun sitze ich im Bus, auf dem Weg ins Praktikum, auf dem Weg in die Psychiatrie. Ich habe Angst vor der Psychiatrie, da sie mir wie eine Inversion des Festivals erscheint, eine schrecklichere Heterotopie22: ein einfarbiger, klinischer Ort, ein Ort mit viel Leid, Trauer und Gewalt, ein Ort mit geschlossenen Türen, klaren Regeln und einer hierarchischen Ordnung, ein Ort an dem die Andersartigkeit und der Ausnahmezustand Anzeichen von individuellen Krankheiten sind, ein Ort in dem ebenfalls viele Drogen konsumiert werden, aber aus ganz anderen Gründen und mit ganz anderen Folgen, ein Ort an dem auch die zwischenmenschlichen Beziehungen so zentral scheinen und doch häufig gerade durch einen Mangel, durch Machtverhältnisse und Abhängigkeiten gekennzeichnet sind.

      Doch neben dieser zugrundeliegenden surrealen Stimmungslage läuft eigentlich alles nach Plan. Ich stehe um 7 Uhr auf, frühstücke, verkleide mich mit meinem Hemd, suche mir ein Notizbuch aus dem Schrank, um meine Feldnotizen machen zu können und radele pünktlich los. In der Klinik angekommen erhalte ich im Sekretariat einen Schlüssel für die Offenheit ausstrahlenden, aber stets abgeschlossenen Milchglastüren der Klinik. Ich werde gebeten, draußen Platz zu nehmen und einen kurzen Moment auf die morgendliche Klinikkonferenz zu warten.

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