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      Kann sein, dass man im Leben Kompromisse schließen muss, doch auch die muss man mit Würde schließen. Doch wenn man Kompromisse nicht mit Würde schließen kann, dann darf man keine Kompromisse schließen.

      Péter Esterházy

      Schon immer fühlte ich mich von den Schönheiten der Natur angezogen, von exotischen Landschaften, der Begegnung mit anderen Kulturen, besonderen oder einfachen Menschen. Als junger Mensch begab ich mich auf Abenteuerreisen in die südamerikanischen Urwälder bis hin nach Alaska, in die afrikanische Savanne bis hin zu den norwegischen Fjorden. Nun aber habe ich die Sechzig überschritten und schrecke vor den mit großen Reisen einhergehenden Komplikationen und Beschwernissen, dem Treiben auf überfüllten Flughäfen, den speziellen und ungewohnten Umständen eher zurück, als dass sie meine Neugier wecken würden.

      Deshalb bevorzuge ich heute virtuelles Reisen, habe zahlreiche Webseiten entdeckt, auf denen an verschiedensten Punkten der Welt installierte Webkameras in Echtzeit über dortige Ereignisse berichten. Diese Fenster ordne ich auf dem Bildschirm so nebeneinander an, dass ich gleichzeitig sehen kann, was sich gerade auf dem Times Square in New York oder auf dem Markt im belgischen Brügge abspielt. Doch ebenso bin ich in Alaska Augenzeuge beim Fischfang von Eisbären wie beim spielerischen Aufeinanderprallen von Tieren in einem kenianischen Nationalpark.

      Ich bin offensichtlich ein Kind der bequemen westlichen Wohlstandsgesellschaften geworden. Als eine Art Literat sitze ich lieber im geheizten Zimmer und lebe mein Verlangen nach dem Exotischen im Internet aus. An die Dramen ferner Länder aber und daran, dass menschliches Ausgeliefertsein, traumatische Erlebnisse an unser Fenster klopfen, vor unseren Toren Einlass begehren, sind wir nicht gewöhnt. Nicht an die Flüchtlingswellen der letzten Jahre, nicht an Hunderttausende, ja, Millionen von Flüchtlingen aus Schwarzafrika, dem Irak, aus Syrien und Afghanistan, den dortigen Kriegsregionen. Was früher weit weg und unvorstellbar zu sein schien, das drängt plötzlich in unsere unmittelbare Nähe. Ein nicht abreißender Flüchtlingsstrom verlangt von den Wohlstandsgesellschaften sofortige Hilfe, Empathie bei der Lösung seiner Probleme. Dem kann sich niemand entziehen. Kein Wunder, dass dies in der Öffentlichkeit zu kontroversen Meinungen führt.

      Mit einigen meiner im Rentenalter befindlichen Freunde treffen wir uns jeden Donnerstagabend zum Kartenspiel. Bei diesen Gelegenheiten diskutieren wir über die aktuellen Ereignisse in der österreichischen Politik. Die Flüchtlingsfrage führt oft zu erbitterten Wortgefechten. Zwei meiner Kartenspielpartner, ein berenteter Versicherungsagent und ein pensionierter Tierarzt, sind entschieden gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Diese beiden Männer meinen, Versorgung und sonstige Betreuung von Flüchtlingen würden den Sozialsystemen eine unverhältnismäßig große Last aufbürden. Deshalb müssten sie möglichst schnell wieder in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Vor allem diejenigen Asylsuchenden, die in den Herkunftsländern keiner tatsächlichen Lebensgefahr ausgesetzt seien.

      Ich selbst bin toleranter, habe das Gefühl, das vor unseren Augen sich abspielende Leid nicht leugnen zu können. Wer in Schwierigkeiten ist und an unsere Tür klopft, dem müssen wir helfen. Auch denke ich, eine positive Einstellung den Fremden gegenüber an sich ist zu wenig. Die Flüchtlingsproblematik wirft die Frage auf, ob sozialer Wohlstand ein grundlegendes Menschenrecht ist oder aber nur den Bürgern einiger privilegierter und glücklicher Länder zusteht.

      Einen besonderen Platz unter den Kartenspielern nimmt ein pensionierter Chefarzt für Psychiatrie ein – mein Freund Dr. Johannes Arany. Der Doktor betreibt heute nur noch eine Privatpraxis. In seiner Sprechstunde behandelt er ständig die seelischen Symptome von Flüchtlingen, unterstützt sie bei ihrer Eingliederung. Doch in der Öffentlichkeit bezieht er zur Flüchtlingsfrage so gut wie nie Stellung. Wenn wir ihn danach fragen, sagt er nur, jeder habe sein Kreuz zu tragen.

      Der Doktor weiß, dass mich die Flüchtlingsfrage stark beschäftigt. Deshalb nahm er mich einmal nach einer Kartenpartie beiseite und überreichte mir ein Heft, ein Tagebuch, meinte, das könnte mich interessieren: „Die Namen habe ich überall unkenntlich gemacht oder durch Fantasie-Namen ersetzt. Schließlich handelt es sich um sensible Daten, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen. Aber das Thema als solches interessiert dich vielleicht.“

      Zu Hause nahm ich das Heft in Augenschein. Klare Schriftzüge hielten nicht nur die Aufzeichnungen zu den Patienten fest, sondern mitunter auch die mit der Behandlung einhergehenden eigenen Gedanken und persönlichen Erinnerungen des Arztes. Ich blätterte darin herum. Die folgenden Zeilen weckten meine Aufmerksamkeit: „Khaled“, dies soll hier nun sein Name sein, „ist ein fescher und netter Bursche aus Afghanistan. Er ist so mitteilsam und freundlich, als hätte er nie anderswo gelebt als unter Österreichern. Was für unterdrückte Verletzungen, was für verborgene Traumata mochten in der Tiefe seiner Seele schlummern? Zu mir hat man ihn wegen chronischer Kopfschmerzen unklarer Genese geschickt, nachdem der Internist sich darauf keinen Reim zu machen wusste und auch Medikamente keine Linderung gebracht hatten. Auch der konsultierte Neurologe, ein Migräne-Spezialist, kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. EEG und CT zeigten keine Auffälligkeiten. Wie zu erwarten, schien Khaled gewissermaßen kerngesund zu sein. Seine Beschwerden wurden als funktional eingestuft. Mich interessierte der fröhliche Afghane, dem scheinbar nichts fehlte. War er lediglich ein kleiner Wichtigtuer und Simulant? Oder aber würde ich auf unverarbeitete Traumata stoßen, auf erlittene Höllenqualen? Bei näherem Hinsehen schien jeder Zweifel ausgeschlossen zu sein. Die unklaren Kopfschmerzen des jungen Mannes mussten auf späte Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zurückzuführen sein.“

      Ich wusste gleich, dass ich einen Fund in Händen hielt, den es galt, der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Der sich hieraus mit schriftstellerischer Fantasie entwickelnde Roman fußt auf den Notizen von Doktor Arany, er ist durchaus der Wirklichkeit im heutigen Österreich geschuldet.

      Khaled

      Doktor Arany hat in seinem Tagebuch Informationen gesammelt, die er sogar mit Überschriften versehen hat. Der erste große Themenkreis trägt den Titel „Khaleds Kindheit in Afghanistan“.

      — —

      Doktor Arany hörte das Zuschlagen einer Autotür. Wenige Augenblicke später tauchte Khaled vor dem Haus des Arztes in Hohe Wand auf, wo er freundlich begrüßt wurde: „Ich dachte schon, wegen der schneeglatten Serpentine würden Sie es nicht schaffen und mich versetzen.“

      „Ach nein“, entgegnete Khaled lächelnd, „das nur halb so gefährlich, wie aussieht.“ Khaled lächelte immer. Damit konnte er die Menschen vermutlich für sich einnehmen. Er war locker und verströmte eine angenehme Atmosphäre, wodurch er die Kommunikation erleichterte. Obwohl sein Leben keineswegs eitel Sonnenschein war, schien er durchaus optimistisch zu sein.

      Doktor Arany dachte oft nach, wie alt Khaled sein mochte. Denn der junge Mann kannte sein Geburtsdatum selbst auch nicht. In Afghanistan, dem Land seiner Herkunft, gab es kein Geburtenbuch. Das Standesamtsregister wies erhebliche Mängel auf. Khaled besaß weder einen Reisepass noch einen Personalausweis.

      Sechs oder sieben Jahre alt mochte Khaled gewesen sein, als sein Vater starb und seine Mutter ins Gefängnis kam, weshalb ihn ein Onkel nach Kabul holte und bei sich aufnahm. Den Mann, bei dem er lebte, nannte er seinen Onkel. Doch auch das ist nicht genau nachvollziehbar. Onkel waren für ihn viele andere ältere Männer. Vermutlich aber bestanden zu seinem Kabuler Quartiergeber irgendwelche verwandtschaftliche Beziehungen. Vor diesem Onkel floh er schließlich in den Iran, von wo er an die zwei Jahre später auf Anregung von Freunden nach Europa auswandern wollte. Nach einer langen, sechs Monate währenden Wanderung gelangte er vor anderthalb Jahren nach Österreich.

      Khaled selbst behauptete, neunzehn Jahre alt zu sein. Doch bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass er durchaus auch zwei bis drei Jahre älter sein könnte. Denn bei seiner Ankunft hatte er von der Vergänglichkeit der Zeit kaum eine Ahnung. Im Großen und Ganzen konnte er Winter und Sommer, das heißt große Hitze und große Kälte, voneinander unterscheiden. Doch die zivilisatorischen Begriffe, wonach es Monate und auch Tage gibt, bedeuteten Khaled nicht viel. Obwohl er seinen Namen schreiben konnte, dürfen wir zu Recht behaupten, dass er in Wirklichkeit

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