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Der Gesang

       53 Die Reise nach Vemmenhög

       54 Bei Holger Nilssons

       55 Der Abschied von den Wildgänsen

       Inhaltsverzeichnis

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      Sonntag, 20. März

      Es war einmal ein Junge. Er war ungefähr vierzehn Jahre alt, groß und gut gewachsen und flachshaarig. Viel nutz war er nicht, am liebsten schlief oder aß er, und sein größtes Vergnügen war, irgend etwas anzustellen.

      Es war an einem Sonntagmorgen, und die Eltern machten sich fertig, in die Kirche zu gehen. Der Junge saß in Hemdärmeln auf dem Tischrande und dachte, wie günstig das sei, daß Vater und Mutter fortgingen und er ein paar Stunden lang tun könne, was ihm beliebe. „Jetzt kann ich Vaters Flinte herunternehmen und schießen, ohne daß es mir jemand verbietet,“ sagte er zu sich.

      Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken seines Sohnes erraten, denn als er schon auf der Schwelle stand, um hinauszugehen, hielt er inne und wendete sich zu ihm. „Da du nicht mit Mutter und mir in die Kirche gehen willst,“ sagte er, „so sollst du wenigstens daheim die Predigt lesen. Willst du mir das versprechen?“

      „Ja,“ antwortete der Junge, „das kann ich schon.“ Aber er dachte natürlich, er werde gewiß nicht mehr lesen, als ihm behagte.

      Dem Jungen kam es vor, als ob seine Mutter sich noch nie so rasch bewegt hätte. In einem Nu war sie am Bücherbrett, nahm Luthers Postille herunter, schlug die Predigt vom Tage auf und legte das Buch auf den Tisch am Fenster. Sie schlug auch das Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Schließlich rückte sie noch den großen Lehnstuhl an den Tisch, der im vorigen Jahr auf der Auktion im Pfarrhause zu Vemmenhög gekauft worden war und in dem sonst außer Vater niemand sitzen durfte.

      Der Junge dachte, die Mutter mache sich wirklich zu viel Mühe mit diesen Vorbereitungen, denn er hatte im Sinne, nicht mehr als eine oder zwei Seiten zu lesen. Aber zum zweiten Male war es, als ob der Vater ihm mitten ins Herz sehen könnte, denn er trat zu ihm und sagte in strengem Ton: „Gib wohl acht, daß du ordentlich liest! Wenn wir zurückkommen, werde ich dich über jede Seite ausfragen, und wenn du etwas übergangen hast, geht es dir schlecht.“

      „Die Predigt hat vierzehn und eine halbe Seite,“ sagte die Mutter, als wollte sie das Maß feststellen. „Du mußt dich gleich daran machen, wenn du fertig werden willst.“

      Damit gingen sie endlich, und als der Junge unter der Tür stand und ihnen nachsah, war ihm, als sei er in einer Falle gefangen worden. „Jetzt wünschen sie sich Glück, daß sie es so gut eingerichtet haben, und daß ich, so lange sie weg sind, über der Predigt sitzen muß,“ dachte er.

      Aber der Vater und die Mutter wünschten sich sicherlich nicht Glück, sondern sie waren ganz betrübt. Sie waren arme Kätnerleute, und ihr Gütchen war nicht größer als ein Garten. Als sie hierhergezogen waren, hatten sie nicht mehr als ein Schwein und ein paar Hühner füttern können; aber sie waren außerordentlich strebsame und tüchtige Leute, und jetzt hatten sie auch Kühe und Gänse. Sie waren ungeheuer vorwärts gekommen und wären an dem schönen Morgen ganz froh und zufrieden in die Kirche gewandert, wenn sie nicht immer an ihren Jungen hätten denken müssen. Der Vater klagte, daß er so träg und faul sei, in der Schule habe er nicht lernen wollen, und er sei ein solcher Taugenichts, daß man ihn mit knapper Not zum Gänsehüten gebrauchen könne. Die Mutter konnte nichts dagegen sagen, aber sie war hauptsächlich betrübt, weil er so wild und böse war, hartherzig gegen die Tiere und boshaft gegen die Menschen.

      „Ach, wenn Gott ihm doch die Bosheit austreiben und ihm ein andres Herz geben würde!“ seufzte die Mutter. „Er bringt schließlich noch sich selbst und uns ins Unglück.“

      Der Junge überlegte lange, ob er die Predigt lesen solle oder nicht. Aber schließlich hielt er es doch fürs beste, diesmal folgsam zu sein. Er setzte sich also in den Pfarrhauslehnstuhl und begann zu lesen. Aber als er eine Weile die Wörter halblaut vor sich hingeplappert hatte, war es, als schläfre ihn das Gemurmel ein, und er fühlte, daß er einnickte.

      Draußen war das herrlichste Frühlingswetter. Es war zwar erst der zwanzigste März, aber der Junge wohnte weit drunten im südlichen Schonen, im Dorfe Westvemmenhög, und da war der Frühling schon in vollem Gange. Die Bäume waren zwar noch nicht grün, aber überall sproßten frische Knospen hervor. Alle Gräben standen voll Wasser, der Huflattich blühte am Grabenrande, und das Gesträuch, das auf dem Steinmäuerchen wuchs, war braun und glänzend geworden. Der Buchenwald in der Ferne dehnte sich gleichsam und wurde zusehends dichter, und über der Erde wölbte sich ein hoher, blauer Himmel. Die Haustür war angelehnt, man konnte das Trillern der Lerchen im Zimmer hören. Die Hühner und die Gänse spazierten auf dem Hofe umher, und die Kühe, die die Frühlingsluft bis in den Stall hinein spürten, brüllten hin und wieder: „Muh, muh!“

      Der Junge las und nickte und kämpfte mit dem Schlafe. „Nein, ich will nicht schlafen,“ dachte er, „sonst werde ich den ganzen Vormittag mit der Predigt nicht fertig.“

      Aber was auch der Grund sein mochte, – er schlief dennoch ein.

      Er wußte nicht, ob er kurz oder lang geschlafen hatte, aber er erwachte von einem leichten Geräusch, das hinter seinem Rücken hörbar wurde. Auf dem Fensterbrett, gerade vor ihm, stand ein kleiner Spiegel, in dem man fast die ganze Stube überschauen konnte. In dem Augenblick nun, wo der Junge den Kopf aufrichtete, fiel sein Blick in den Spiegel, und da sah er, daß der Deckel von Mutters Truhe aufgeschlagen war.

      Mutter besaß eine große, schwere eichene Truhe mit eisernen Beschlägen, die außer ihr niemand öffnen durfte. Darin verwahrte sie alles, was sie von ihrer Mutter geerbt hatte und was ihr besonders ans Herz gewachsen war. Da drinnen lagen einige altmodische Bauerntrachten aus rotem Tuch mit kurzen Leibchen und gefältelten Röcken und perlenbestickten Bruststücken. Auch weiße gestärkte Kopftücher und schwere silberne Schnallen und Ketten waren darin. Die Leute wollten solche Sachen jetzt nicht mehr tragen, und Mutter hatte schon wiederholt daran gedacht, sie zu verkaufen, hatte das aber doch nie übers Herz gebracht.

      Jetzt sah der Junge im Spiegel ganz deutlich, daß der Deckel der Truhe offen stand. Er konnte nicht begreifen, wie das zugegangen war, denn Mutter hatte, bevor sie fortging, den Deckel zugemacht. Das wäre Mutter nicht passiert, daß sie die Truhe offen gelassen hätte, wenn er allein zu Hause blieb.

      Es wurde ihm ganz unheimlich zumute. Er fürchtete, ein Dieb könnte sich hereingeschlichen haben, und wagte nicht, sich zu rühren, sondern saß ganz still und starrte in den Spiegel hinein.

      Während er so dasaß und wartete, daß der Dieb sich zeige, begann er sich zu fragen, was das wohl für ein schwarzer Schatten sei, der auf den Rand der Truhe fiel. Er sah und sah und wollte seinen Augen nicht trauen. Aber was dort im Anfang einem Schatten geglichen hatte, wurde immer deutlicher, und bald merkte er, daß es etwas Wirkliches war; und es war in der Tat nichts andres als ein Wichtelmännchen, das rittlings auf dem Rande der Truhe saß.

      Der Junge hatte wohl schon von Wichtelmännchen reden hören, aber er hatte sich nie gedacht, daß sie so klein sein könnten. Das Wichtelmännchen, das dort auf dem Rande saß, war ja nur eine

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