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Lauer. Mir geht die andere Mutter nicht mehr aus dem Kopf. Die, die ihre Augen vor lauter Weinen nicht mehr aufhalten kann. Die sich wimmernd im Bett hin und her wiegt wie ein Kind mit Hospitalismusschäden. Die, zu der ich mich nicht hineintraue, weil ich ihr nichts sagen kann über ihr Baby, das irgendeine Schwachsinnige gestern einfach von der Säuglingsstation geklaut hat. Ein Baby – geklaut!! Das muss man sich mal vorstellen. Nur ein paar Kilometer von uns entfernt. Um diese Frau, Lauer, muss ich mich kümmern. Hast du nicht gestern die Hubschrauber über dem Krankenhaus kreisen gesehen? Alles war im Einsatz, um diesen Säugling lebend zu finden. Da kann ich mich nicht von einem Baby ablenken lassen, das – soviel wir wissen – offensichtlich noch bei seiner Mutter ist. Begreifst du das denn nicht?“

      „Doch Charly, aber trotzdem … Reg dich ab. Vielleicht hilft dir das weiter.“ Volker Lauer legt dem Hauptkommissar einen Computerausdruck auf den Schreibtisch: „Hier ist eine ganze Reihe von Kindesentziehungen aufgelistet, die sich in den letzten Jahren in deutschen Kliniken ereignet hat. Alle gingen gut aus.“

      „Und wenn wir die schreckliche Ausnahme sind?“ Hinter Hammer-Charly Stirn beginnt es zu pochen. Er greift zu der Aufstellung und liest – mehr um sich abzulenken, als in der Hoffnung, davon wirklich neue Erkenntnisse zu gewinnen. Aufgeführt waren insgesamt nicht mehr als sieben Fälle. Alle schienen, was Tatausführung und Motivlage anbelangt, derart identisch, als wäre hier ein einziger Täter am Werk gewesen. Besser gesagt eine Täterin.

      * Januar 1999:

      Entfü hrung aus dem Bethesda-Krankenhaus in Mönchengladbach. Täterin war eine als Krankenschwester verkleidete Friseurin (33). Das Kind wurde in ihrer Wohnung aufgefunden. Es war ihm nichts passiert.

      * September 1999:

      Entführung aus dem Säuglingszimmer des Krankenhauses in Berlin-Friedrichshain. Täterin war eine verwirrte 22-jährige Studentin. Der Säugling blieb unversehrt.

      * Februar 2000:

      Aus einem Krankenhaus in Wetzlar wird ein Neugeborenes von einer 26-jährigen Italienerin entführt und einen Tag später in Gießen gesund aufgefunden.

      * Februar 2001:

      In Bremen wird kleiner Junge – gerade einmal einen Tag alt – aus dem Zentralkrankenhaus entführt und am folgenden Tag in gutem Zustand aufgefunden – wohl versorgt von seiner 36-jährigen Entführerin, die zuvor das Sorgerecht über ihre eigenen fünf Kinder verloren hatte.

      * November 2001:

      Entführung eines Babys aus einem Krankenhaus in Bückeburg. Das Kind wird 24 Stunden später 30 km entfernt in Porta Westfalica gesund aufgefunden. Täterin war eine 20-Jährige.

      * Mai 2005:

      Baby-Entführung aus der Leverkusener Remigius-Klinik. Das Kind wird vier Tage später im Fahrstuhl eines Geschäftshauses in Düren wohlbehalten wiedergefunden.

      * November 2008:

      Elbklinik Buxtehude. Täterin ist eine 24-Jährige. Motiv: unerfüllter Kinderwunsch. Sie setzt das Kind kurze Zeit spät in der Cafeteria des Krankenhauses in Bremerhaven ab.

      Sieben Fälle. Nur ein ganz kleiner Teil dessen, was tatsächlich vorgefallen ist. Sorgsam dokumentiert. Es gibt viel mehr. So viele, dass bereits 2002 im Uniklinikum Lübeck ein ausgeklügeltes Sicherungssystem mit WLAN-Tags erprobt wurde, weil Mini-Sender, wie sie in vielen Krankenhäusern inzwischen schon gebräuchlich sind, zu oft überwunden werden.

      Wenn Entführungen gut ausgehen, werden sie im Computer gespeichert und ad acta gelegt. Fälle, die niemanden mehr berühren. Abgesehen von jenen direkt betroffenen Personen, als die Akten noch keine Makulatur waren. Wer mal so intensiv um sein Kind bangen musste – und sei es auch nur für Stunden – wird das wohl nie mehr vergessen. Zeit ist eine Abfolge von Augenblicken, und jeder einzelne davon scheint in einer solchen Situation niemals zu vergehen.

      Nun das hier. Eine neue Situation. Der Fall auf Karl Hammers Schreibtisch. Selbst für den alten Routinier viel mehr als bloße Statistik. Eine Aufgabe, die es zu lösen gilt. Von deren Erfolg das Glück einer Familie abhängt. Vielleicht sogar ihr Bestand. Seine lange Berufserfahrung hat Hammer-Charly gelehrt: Manche Beziehungen zerbrechen an Belastungen wie diesen. Ja sogar manche Menschen. Die Struktur des Eltern-Kind-Verhältnisses ist zwar erstaunlich strapazierfähig, aber nur so lange ein innerer Zusammenhalt besteht. Sobald ein Eingriff von außen erfolgt, wird sie zerbrechlicher als Glas. Hammer-Charly hat das in seiner Laufbahn häufig erfahren – beispielsweise nach Fällen von Kindesmissbrauch. Ja sogar, wenn ein Kind seinen Eltern durch einen tödlichen Unfall entrissen wird.

      In solchen Momenten glaubt der Hauptkommissar, dass kinderlose Paare eigentlich glücklicher sein müssten – auch wenn viele das ganz anders sehen. Aber so etwas muss jeder mit sich allein abmachen. Charlys Kopfschmerzen sind heftiger geworden. Er presst die vier Fingerkuppen seiner beiden Hände gegen die Stirn und massiert mit den Daumen seine Schläfen. Dabei starrt er auf Volker Lauers Aufstellung, als könne sie ihm tatsächlich weiter helfen. Immerhin schien auffällig, dass praktisch alle Entführerinnen zuvor Fehlgeburten erlitten oder ihre eigenen Kinder auf andere Weise verloren hatten. Alle Entführungen wurden von Frauen begangen und fast alle hatten ihren Partnern eine Schwangerschaft vorgespiegelt. In keinem Fall gab es eine Lösegeldforderung. Es ging immer nur um die Kinder.

      Und so konnte es schließlich auch hier sein. Es gab jedenfalls vorerst keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Sie suchten eine Frau, die ihr eigenes Baby verloren oder selbst nie eins gehabt hatte und diesen Mangel jetzt schlicht durch die kleine Friederike Storm auszugleichen versuchte. Und wie findet man eine solche Frau? Darüber war nichts in Volker Lauers Aufstellung zu lesen. Sicher war nur: wohl kaum über eine Zeitungsanzeige. Natürlich konnte er sämtliche Akten anfordern und würde es im Endeffekt wohl auch tun müssen. Aber es dürfte Tage dauern – wenn nicht gar Wochen – bis sie das alles gesichtet hätten. Und ob dabei im Endeffekt etwas heraus käme, schien ihm höchst zweifelhaft. Das, nachdem er suchte, war gerade mal 36 Stunden auf der Welt, als eine angebliche Lernschwester Marion es seiner Mutter wegnahm und damit einer Familie unsägliches Leid zufügte.

      Hammer-Charly musste irgendetwas tun. Passiv herum zu sitzen und zu grübeln ist nicht sein Ding. Er wuchtete seine massige Statur aus dem Schreibtischsessel, griff nach seinem Jackett und polterte: „Los, Lauer. Auf geht’s. Irgendwo müssen wir ja anfangen. Warum also nicht bei dem Beamtenarsch. Kann ja sein, dass seine Frau ihm die kleine Friederike unterschieben wollte.“

      „Selber Beamtenarsch“, brummelte Volker Lauer, während er hinter seinem Chef aus dem Büro stürmte.

      „Weiß ich doch,“ lacht Charly gegen seine Ängste an. „Nur darum darf ich das ja auch sagen.“

      Kapitel 3

      Einen Tag vor der Landtagswahl in NRW. An diesem 21. Mai schien im ansonsten eher durchwachsenen Sommer 2005 sogar die Sonne, als der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle um 14 Uhr in Dortmund nach sechsjähriger Pause wieder ein Saarlandstraßenfest eröffnete. Einige seiner Parteifreunde hatten es organisiert, um für das von ihnen propagierte „neue Dortmund“ mit neuen Jobs zu werben.

      Neue Jobs hat es bis heute ebenso wenig gebracht wie damals einen nennenswerten Stimmenanteil für die sogenannte Spaßpartei, deren einstiger Chef heute – etliche Jahre später – als Bundesaußenminister einer schwarz-gelben Koalition durch die Welt tourt. Eine Tatsache, für die die Dortmunder Volksbelustigung von 2005 allerdings ohne jede Bedeutung war.

      Anders für Alma: Das ist es, dachte sie. Genau so hatte sie sich ihr Leben erträumt. Nichts sollte sie mehr von all den anderen unterscheiden, die sich auf dem Saarland-Straßen-Fest amüsierten. Sie wollte nur eine von vielen sein. Nichts als Alltäglichkeit. Sie saß auf der Holzbank neben dem Bierstand. Der Mann am Tisch ihr genau gegenüber, hob seinen Glaskrug und stieß ihn leicht gegen ihren. „Auf uns“, sagte er. „Schön, dass wir uns begegnet sind.“

      Die Sonne wärmte ihr den Rücken. Es schien, als würde ihr nie wieder kalt werden. Das Bier schmeckte leicht bitter. Vor langer Zeit – oder war es noch gar nicht so lang her? Egal. Jedenfalls damals, als

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