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Impuls, der zusätzlich zu seinen vererbten Merkmalen durch Lob und Tadel der Mitmenschen beeinflusst wird. Je höher allerdings die Entwicklung von Organismen, desto geringer sei die Bindung an Instinkte – und dies gilt auch für gegenseitige Hilfe. Für Darwin werden Liebe, Sympathie, Selbstbeherrschung und Hilfsbereitschaft zu einem großen Teil auch von Gewohnheit bestimmt; sie lassen sich stark von der Lebensführung und den Urteilen des sozialen Umfeldes beeinflussen.

      In höher entwickelten Kulturen weiten sich soziale Instinkte und Sympathien auch auf Fremde aus. (Darwin 1871) Darwin führt darüber hinaus das Prinzip der Unterstützung Schwacher an, um das Wohl der Gemeinschaft zu erhalten. Dementsprechend haben diejenigen Gemeinschaften die meisten Nachkommen, welche die meisten harmonisierenden Mitglieder haben.

      In Anlehnung an Herbert Spencer geht Darwin von der Möglichkeit aus, dass moralische Neigungen sich vererben, wie er überhaupt einen Teil »Lamarckismus« in sich trägt, wenn er behauptet, dass Gewohnheiten, die generationenlang ausgeübt werden, dazu neigen, vererbt zu werden. (Darwin 1905) Eine vollständige Lösung vom Lamarckismus propagierte erst später der Neodarwinist August Weismann. (Mayr 1988)

       Darwin war kein Sozialdarwinist

      Der Begriff »Survival of the Fittest«, der nachweislich erst durch Herbert Spencer eingeführt wurde, lässt sich inhaltlich erst in – Darwin selbst fremden – sozialdarwinistischen Konzepten finden. Das zeigt sich auch daran, dass Darwin mit »Fitness« keine positive Konnotation verband, sondern lediglich das Faktum der Reproduktionsfähigkeit ansprach: »Das hat zur Folge, daß gerade diejenigen Gesellschaftsschichten, die nach Ansicht der Sozialdarwinisten für die Degeneration der zivilisierten Menschheit verantwortlich sind, orthodox-darwinistisch gerade die höchste ›fitness‹ erreichen, wenn sie besonders kinderreich sind. Sozialdarwinisten wollen dagegen erreichen, daß die im normativen Sinne ›Besten‹ sich am zahlreichsten fortpflanzen. Für die Auszeichnung dieser Besten ist dann aber gerade ein Maßstab nötig, der nicht der Natur entnommen werden kann.« (Gräfrath 1997, 92)

       Moralisches Gefühl als Kennzeichen des Menschen

      Darwin verfolgt gemäß seiner teleologischen Ethik einen Utilitarismus, indem für ihn das Prinzip des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl als fester Maßstab von Recht und Unrecht gilt. Auch ist das moralische Gefühl für Darwin das höchste Differenzierungskriterium zwischen Mensch und Tier. Angeborenes moralisches Gefühl und soziale Verstärkung sowie Gewohnheit bilden somit die menschliche Sittlichkeit, die Darwin mit der »Goldenen Regel« ausgedrückt sieht: »Was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen.« (Darwin 2002/1871, 161)

      Auch der Wert der Kooperation wird bereits bei Darwin gewürdigt, wenngleich die spätere Rezeption dies meist unterschlagen hat. Darwin zufolge ist bei Not und Gefahr diejenige Gemeinschaft erfolgreich, die bereit ist, zu helfen; Selbstsucht und Unverträglichkeit stehen einem Überlebenserfolg entgegen. Den Ausgangspunkt für Darwins ethischen Gradualismus, der durch soziale Sanktionen zunächst Gewohnheit wird und dann durch Gewohnheit wiederum vererbt wird, bildet der Lamarckismus, vereint mit der sozialen Sanktionierung unethischen Verhaltens. Durch diese Annahme transzendiert Darwin das oft unterstellte primitive Prinzip eines vulgären Mutations-Selektions-Mechanismus. Diesem gemäß würden ja die Sittlichen und Mutigen durch ihre Aufopferung für andere im Kampf umkommen und könnten ihre »edlen« Anlagen gerade nicht vererben.

       Die »nachteiligen Folgen der Erhaltung und Vermehrung der Schwachen«

      Allerdings würde man Darwin falsch verstehen, wollte man Hilfsbereitschaft, Sittlichkeit oder Kooperation generell als prägende Merkmale seines Evolutionismus annehmen. Dazu gibt es zu viel Widersprüchliches in seinen Ausführungen selbst, und letztlich scheint sein teleologischer Gradualismus, also die Annahme einer ständigen Höherentwicklung des Organischen, auch bei seinen ethischen Überlegungen alle anderen Aspekte zu überschatten. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass für Darwin die Vernachlässigung Schwacher und Hilfloser teleologisch durchaus zu rechtfertigen ist, wenngleich sie weder »erwartet« noch »erhofft« werden kann und wir uns somit »mit den ohne Zweifel nachteiligen Folgen der Erhaltung und Vermehrung der Schwachen abfinden« müssten. (Darwin 2002/1871, 171) Bereits Kropotkin (1908) hat hier eingewandt, wie seltsam diese Auffassung anmutet, zumal wir doch das Schaffen von oft nicht lebensstarken Dichtern, Künstlern, Wissenschaftlern und Genies gerade als Manifeste unserer aufstrebenden Kultur nähmen. Da Darwin die Künste durchaus als evolutionären Zweck versteht (Darwin 1871), besteht auch hier ein immanenter Widerspruch seiner Theorie.

      Wenngleich Darwin zwar nicht von einem angeborenen Aggressionstrieb ausging, die Aggression vielmehr als reaktives Phänomen ansah, betrachtete er den Kampf zwischen Individuen und Arten durchaus als Gesetz der Evolution. In seiner Annahme einer fortschreitenden Entwicklung sprach er sich dafür aus, dass der Mensch einem heftigen Kampf ausgesetzt bleiben müsse. (Darwin 1871) Konrad Lorenz hat später unter Berufung auf Darwin den Kampf- bzw. Aggressionstrieb fälschlicherweise als primären menschlichen Trieb ausgeführt, obwohl die von Lorenz angeführten Tierbeispiele gerade Argumente zum Verständnis der Aggression als reaktive Verteidigungsmodi waren. Lorenz brachte sie aber als Nachweise für eine primäre Angriffslust beim Menschen. (Bauer 2008) Ungelöst bleibt bei Darwin auch der bei vielen Autoren angeführte immanente Widerspruch, wie Individuen und Spezies im fortwährenden Daseinskampf Nutznießer der Evolution bleiben können, obschon sie ständige Einbußen ihrer Vitalität erleiden.

       Darwin heute

      In der aktuellen Forschung scheinen die zufällige Variation des biologischen Substrats sowie die Selektion durch optimale Reproduktion keine hinreichenden Voraussetzungen mehr für die Erklärung komplexer Evolutionsphänomene zu sein. Dennoch gibt es heute sowohl in der Biologie als auch etwa in der Ökonomie noch ein breites darwinistisches Wissenschaftscredo, das die Durchsetzung neuer Paradigmen erschwert und die »Gefahr der Exkommunikation aus der wissenschaftlichen Gemeinde nach sich zieht« (Bauer 2008, 111). Ungeachtet dessen gibt es hochrangige und angesehene Forscher, wie etwa S. J. Gould, J. A. Shapiro, L. Margulis oder B. McClintock, die sich für ein neues Verständnis der Evolutionsbiologie einsetzen. Die Strategie zahlreicher Gutachter internationaler Fachzeitschriften, wissenschaftliche Daten nur dann zur Veröffentlichung anzunehmen, wenn sie dem darwinistischen Credo entsprechen, sieht Joachim Bauer als »vorübergehende, behelfsweise Überlebensstrategie zur Aufrechterhaltung dieses Dogmas« (Bauer 2008, 128).

      

Die Prinzipien der Evolution sind in ihrer Dynamik weniger durch Mutation und individuelle Konkurrenz bestimmt, sondern im Wesentlichen durch Selbstorganisation, Kooperation, Emergenz, Koevolution und Replikation. Kollektive Intelligenz entsteht als emergente Eigenschaft, ohne dass dafür Führung von oben nötig ist. Ordnung ist im Rahmen von Selbstorganisation in lebenden Systemen immer schon vorhanden, und zwar bereits auf Ebene des Genoms; sie kommt nicht erst durch Selektion und Mutation in die Welt.

      

Der Begriff der Konkurrenz spielt für den Darwinismus eine wichtige Rolle. Unabdingbare Voraussetzung ist dabei ein externer Vergleichsmaßstab. Systemtheoretisch hingegen ist Konkurrenz formal nicht möglich und praktisch unsinnig.

      

Aus darwinistischer Perspektive entsteht Leistung durch Anpassungsdruck, aus systemischer Sicht sind Leistung und Motivation immer schon vorhanden und werden durch Anpassungsdruck vermindert, da der externe Maßstab von den Eigengesetzlichkeiten absieht.

      

Überlebensfähigkeit definiert sich postdarwinistisch nicht durch die Anpassung des Lebens an eine bestehende Umwelt, sondern durch Koevolution selbstorganisatorischer Lebensprozesse. Auch praktisch zeigt sich der Gedanke der Konkurrenz nicht als dominierendes Prinzip des Lebens, er tritt vielmehr zugunsten von Kooperation, Vernetzung

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