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mal über Selbstverteidigung nachgedacht?«, fragt er eines Nachmittags.

       Ich halte inne und denke kurz nach. Eine Schusswaffe? Nein. Pfefferspray? Kann bestimmt nicht schaden. Ein schwerer Rohrschlüssel? Eine Machete? Pfeil und Bogen? Ein Nunchaku? Voodoopüppchen?

       »Mädchen, denk einfach mal über einen Kampfsport nach.«

      Ich setze es auf die Liste.

      Irgendwann frage ich ihn: »Was hältst du von Swell?« Auch wenn sich unter Seefahrern der Aberglaube hält, dass die Umbenennung eines Schiffes oder Bootes Unglück bringt, hat dieses hier schon mehrere Umtaufen miterlebt, und als Hommage an unser gemeinsames Vorhaben fände ich einen neuen Namen schön.

      »Swell … Swell … Hmm. Klingt gut. Erinnert mich an Joshua Slocums Spray. Und es hat etwas mit deiner Surfleidenschaft zu tun.«

      »Außerdem heißt swell auchtollodergroßartig– undanschwellen‹, ›anwachsen‹.«

      »Stimmt.« Er grübelt ein bisschen. »Und du müsstest es nirgends erklären. Gefällt mir. Swell soll es sein! Wann ist die Taufe?«

      Noch weitere zweieinhalb Jahre lang arbeite ich auf dem Boot und an der Restaurantbar, bis endlich die Abreise naht. Auf dem Rücken liegend streiche ich die letzte Ecke der Vorderkajüte – die letzte Schicht Lack für Wände und Decken im Innern der Swell. Ich ruhe mich kurz aus, blicke zufrieden nach oben und krabbele anschließend hinaus, um auf die Uhr zu sehen. In sechs Minuten beginnt meine Restaurantschicht!

      Ich schleudere den Pinsel in die Büchse mit Verdünner und sprinte übers Dock durch das schwere Stahltor vor der Marina. Hechte in meinen Wagen, wühle zwischen Klamotten, Ersatzteilen für das Boot, Quittungen und Surfboard-Finnen auf dem Rücksitz ein paar halbwegs saubere Restaurantkleidungsstücke heraus, sehe mich schnell um, ob auch keiner da ist – die Luft ist rein. Ich streife die Jeans ab und springe in meine Anzughose, ziehe mir das farbbekleckste Shirt über den Kopf und die zerknitterte Restaurantbluse über. Schnell noch Deo unter die Achseln, ich schmettere die Autotür zu und renne auf das zweistöckige weiße Gebäude zu, das am nordwestlichen Ende des Hafens steht.

      Ich liebe meine Kollegen dort und die Stammgäste. Ich liebe Barry, ich liebe die Bootsspezialisten, die ganze Hafen-Community. Aber der Druck ist inzwischen immens. Das Datum, das ich der Lokalzeitung als Abreisetag genannt habe, ist vor einer Woche verstrichen. Ich schneide Limetten als Deko für Drinks und denke unterdessen darüber nach, wie viel ich in den letzten Jahren gelernt habe: Inzwischen kann ich einen Bohraufsatz binnen Sekunden wechseln. Ich kann schrauben, ohne zu überdrehen. Ich kann einen echt guten Martini anrühren, aber auch Epoxi, und ich kann durch Edelstahl bohren. Ich weiß jetzt, dass mit dem richtigen Werkzeug und ein bisschen Kreativität fast alles möglich ist. Trotzdem frage ich mich, ob ich auch neue Probleme lösen kann, sobald ich meinen Lehrmeistern erst den Rücken gekehrt habe.

      Ich laufe zum Küchenpass, wo die Bestellung eines weniger charmanten Stammgasts bereitsteht. »Hättest du nicht längst weg sein wollen?«, fragt er, als ich ihm das Essen serviere.

      Ich schenke ihm sein Bier ein und bringe ein schiefes Lächeln zustande. Sein Kommentar trifft mich deshalb so hart, weil hinter meiner selbstbewussten Fassade die Besorgnis ins Unermessliche wächst. Obwohl all die neuen Einbauten der Swell auf meine Körperkraft und -größe abgestimmt sind, steht der Testlauf zu Wasser immer noch aus. Was, wenn ich den langen Baum und das riesige Großsegel in starkem Wind nicht beherrsche? Bin ich wirklich imstande, den Außenborder mithilfe des Krans hochzuhieven? Was, wenn die Zweifler am Ende recht haben?

      Und dann ist der Abreisetag plötzlich gekommen. Ich fahre zu Barry nach Hause, um mich zu verabschieden. Er sitzt in seinem kajütenartigen kleinen »Büro« in der Garage und schreibt gerade an einen Freund. Von der Decke baumeln Kartenrollen, und in den Regalen stehen Unmengen nautischer Literatur und Bücher über Umweltthemen.

       »Mädchen, was war das bis hierhin schon für ein Abenteuer! Ich wünsche dir immer günstigen Wind und die wohlfeilste Gesellschaft! Du wirst hier sehr fehlen.«

       »Gleichfalls, Barry. Ich werde dich wahnsinnig vermissen.«

      »Wie die großartige Emily Dickinson einmal gesagt hat: ›Abschied ist alles, was wir von der Hölle wissen müssen.‹« Er zwinkert mir zu, ich lächele, und mir kommen die Tränen. Mir fehlen die Worte, um meine Dankbarkeit auszudrücken. »Ich wünschte mir nur, ich könnte mitkommen.« Er lächelt mich schelmisch an und begleitet mich mit seiner Gehhilfe noch bis zum Wagen.

       Ich nehme ihn fest in die Arme und sehe ihm unverwandt in die funkelnden Augen. »Danke für alles.«

       Feierlich wiederholt er, was er immer sagt, wenn wir uns voneinander verabschieden: »Nur weiter so, meine Liebe. Und gib das Schiff nicht auf!«

      Mit ein paar Freunden segele ich an diesem Tag bloß 25 Meilen weit gen Süden bis in den Channel Islands Harbor in Oxnard. Ohne die vielen Schaulustigen und Ablenkungen installieren James, Marty und ich dort noch zermürbende vier Wochen lang den Autopiloten, bringen den Spinnakerbaum am Mast an, verstärken die Bugrolle für den Anker und vieles mehr.

      Die zwei darauffolgenden Monate in San Diego sind noch viel anstrengender. Hier und da versuche ich, mich zu entspannen und den Besuch bei meiner Familie zu genießen, aber angesichts meiner To-do-Liste und all der Unwägbarkeiten ist das beinahe unmöglich. Die rund hundertsiebzig Seemeilen von Oxnard hierher bin ich per Motor gefahren, weil von Wind keine Rede war; so habe ich auf der Swell noch immer nicht richtig segeln können. Andererseits kann ich unmöglich neun Monate warten, bis wieder Segelsaison ist. Und die allerwichtigsten Dinge sind samt und sonders durchgecheckt worden

      Mit der unbeirrten Unterstützung durch meinen Vater lege ich einen Endspurt hin. Auf dem Boot sind es jetzt nur noch Kleinigkeiten, aber ich brauche noch so viele Sachen – vom Dingi mit Außenborder bis hin zu zusätzlichen Medikamenten, der Außenborderhalterung, Karten, Handbüchern zum Fahrtensegeln, Angel- und Tauchausrüstung und der richtigen Auswahl an Surfboards. Fotoausrüstung, Fernglas, Zinkschutz, Kanister, Ölfilter, ein Lötgerätesatz, Glasfaserspachtel, Dichtungen, Ablassschrauben, eine Taschenlampe, Leesegel, Gastlandflaggen. Ein paar Glücksbringer können nicht schaden.

      Am Tag vor meiner Abreise schlafe ich im Haus meiner Eltern statt an Bord der Swell. Mir graut vor dem Sonnenaufgang. Das war’s jetzt – alle übrigen Arbeiten und Anschaffungen werden unterwegs gemacht. Jetzt habe ich keine Ausrede mehr. Meine Crew steht bereit. Das Boot ist mit Proviant, Diesel und Wasser beladen. Eine kleine Delegation aus Freunden und Familie wirft die Leinen los, und ich steuere die Swell vorbei an denselben Docks, an denen ich einst auf einer winzigen Jolle segeln gelernt habe.

      Über der Bergsilhouette im Osten taucht nach und nach ein orangefarbener Schimmer auf, während die Swell weiter nach Süden fährt. Mark steckt gegen halb sieben den Kopf aus der Kajüte, Shannon kurze Zeit später. Wir schwelgen in Erinnerungen an die achthundert Seemeilen, die wir mittlerweile zurückgelegt haben.

      Als die Sonne am späten Morgen aufgeht, ist die Luft sogar erstmals halbwegs warm. Erleichtert schälen wir uns aus den stinkenden Jacken und Stiefeln und ziehen die Mützen ab, die wir seit achtzehn Tagen tragen. Sobald das steinerne Tor – das Wahrzeichen an der Südspitze der Baja-Halbinsel – in Sicht kommt, johlen wir und klatschen uns ab, holen die Segel ein und stoßen einander ins offene Meer für eine Ehrenrunde im Wasser.

      Ich erzähle ihnen lieber nicht, wie erleichtert ich bin, dass wir es bis hierher geschafft haben, und wie sehr mir ihre Gesellschaft und Unterstützung auf dieser ersten anstrengenden Etappe geholfen haben. Ich bin mir sicher, dass sie es sowieso wissen.

      Ich manövriere die Swell an dem Aufgebot aus Fischer- und Ausflugsbooten vorbei, die aus dem Hafen von Cabo San Lucas hinausströmen,

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