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Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) präsentiert technische Analysen der deutschen Skispringer im Vergleich mit den aktuell besten. Zahlen und Fakten, die ich in dieser Form noch nie gesehen habe. Die Verantwortlichen präsentieren die akribisch ausgewerteten Zahlen in optisch ansprechender Form, und viele hängen an deren Lippen. Die Kritik aus dem Trainergremium hält sich in Grenzen. Schließlich steht auf der Erfolgsseite heuer zu wenig. Die neuen Kollegen aus Sachsen und Thüringen fühlen sich hier sehr heimisch und notieren pflichtbewusst die Eckpunkte des Vortrags. Mein Technikbild habe ich ohne das IAT entwickelt, und die Erfolge von Schlierenzauer geben mir das notwendige Selbstvertrauen. Aber ich spüre instinktiv, dass hier politische Dimensionen eine große Rolle spielen, und entscheide mich für den diplomatischen Weg, trotz der einen oder anderen gegensätzlichen Ansicht. Ich kündige Kooperation an und verspreche den Kollegen, gelegentlich einen tieferen Einblick in meine Skisprungphilosophie zu geben. Ich beschwöre ein weiteres Mal den notwendigen gemeinsamen Weg und präge den Begriff des »roten Fadens« in den Bereichen Technik und Athletik, den ich Schritt für Schritt verankern möchte.

      Auf Systemfragen angesprochen oute ich mich als glühender Verfechter einer zentralistischen Struktur. Ich ziehe Vergleiche mit der Schweiz und mit Österreich und hebe die Stärken dieser Systeme heraus, indem ich klarmache, dass die geringe Anzahl an Skispringern durch die Tatsache wettgemacht wird, dass die besten immer gemeinsam trainieren. Ginge es nämlich nach der Anzahl der Schanzen oder der Menschen, die diesen Sport betreiben, dann müsste Deutschland viel besser dastehen. Hier höre ich erstmals ein Murren aus dem Kreis der Zuhörer. Damit scheine ich einen wunden Punkt angesprochen zu haben, der mich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.

      Horst Hüttel hält mir in dem Moment die Stange und verweist auf die Nordische Kombination. Auch dort bedurfte es größter Kraftanstrengung, bis das enorme Potenzial in Deutschland sichtbar wurde. Einheitlichkeit und Zentralisierung waren auf diesem Weg die entscheidenden Bausteine.

      Nachhaltige Strukturen aufbauen

      (und dann konsequent leben)

       S K I – Man hat nur eine Chance – Die Wissenschaft richtig integrieren

      Ich bin innerlich zwar aufgeregt, aber auch schon ein wenig müde. Der Tag hat Kraft gekostet. Anreise, viele neue Gesichter, der Druck, entsprechen zu wollen, die Psychologie des ersten Eindrucks im Nacken. Beim Abendessen wird noch rege in kleinen Gruppen weiterdiskutiert. Die Stimmung ist gut, trotzdem fühle ich, dass doch der eine oder andere in Lauerstellung ist. Unsicherheit lässt sich eben nicht so leicht abschütteln und Altlasten erst recht nicht.

      Horst Hüttel und ich lassen den Abend noch bei einem Bier ausklingen und ziehen zufrieden Resümee. Horst, der alte Fuchs, der schon so viele Sitzungen in Deutschland geleitet hat, ortet eine gute Chance, die Kollegen mitzunehmen und auf unsere Seite zu ziehen. Dazu müssen wir zwar inhaltlich noch ein wenig konkreter werden, meint er, aber für den heutigen Tag ist alles gut. Überfallsartig die Mitstreiter zu beglücken schaffe eher Widerstand.

      Am nächsten Tag beginne ich mit meinen Schwerpunkten für die Zukunft. Dabei wiederhole ich gebetsmühlenartig die drei entscheidenden Schlagworte: Struktur – Kommunikation – Inhalt. Kommunikation ist das verbindende Element und steht im Mittelpunkt allen Handelns. Ich versuche, allen noch einmal eindringlich klarzumachen, dass es hier eine Bring- und eine Holschuld gibt, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist, und verspreche, das leidenschaftlich vorzuleben.

      Ich merke, dass die Kollegen eher am Strukturellen und am Inhaltlichen interessiert sind. Die Thematik Kommunikation erscheint ihnen zu abgedroschen oder zu abstrakt. Ich gehe auf meine strukturellen Vorstellungen ein, oute mich als glühenden Vertreter des Lehrgangssystems nach Leistungsstufen und dass ich das Stützpunktsystem im Sinne einer regionalen Trainingseinrichtung als sinnvoll, aber untergeordnet sehe. Leises Raunen und ein paar skeptische Blicke im Raum.

      Unbeeindruckt fahre ich fort und argumentiere inhaltlich. Ich spreche von Wettkampfebenen und Verantwortung, von lückenlosen Übergängen und Vertrauen. Im Mittelpunkt müsse immer der Athlet stehen und nicht der Trainer, der Landesverband, der Stützpunkt oder sonst jemand. Das scheint ein Tabubruch zu sein. Schnell wird mir die politische Dimension bewusst. Hier geht es um das Verteidigen von Pfründen und nicht um die Sache. Jahrelang hatten sich die regionalen Kräfte verstärkt und eigene Ideologien aufgebaut. Bei den Übergängen von einer Altersstufe zur nächsten kam es für den Athleten zum Neubeginn oder zur Umstrukturierung. Den verantwortlichen Trainern ging es vorwiegend darum, ihren Bereich abzusichern und das regionale Gedankengut möglichst nicht teilen zu müssen. Das ging teilweise so weit, dass Bewegungskorrekturen im Geheimen stattfanden, versucht wurde, im Materialbereich möglichst eigenständig Dinge zu entwickeln und diese wiederum auf keinen Fall zu teilen. Der Leidtragende ist in diesen Fällen immer der Athlet, und der sollte doch eigentlich im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen.

      Ich bleibe hart und weiche keinen Millimeter von meinen Überzeugungen ab. Mit anderen Worten erkläre ich der versammelten Trainerschaft, dass in Zukunft der kaderverantwortliche Trainer dem Stützpunkttrainer die inhaltliche Linie vorgibt und nicht umgekehrt. Horst unterstützt mich dabei, und wir können die Diskussion im Keim ersticken.

      »Profiliere deinen Athleten und nicht dich selbst.« Das sollte das Motto sein, das uns über Jahre begleiten wird.

      Ich spreche noch ein wenig über meine Technikvorstellung, vertröste aber gleichzeitig alle Anwesenden auf zukünftige Treffen an der Schanze, da es meines Erachtens keinen Sinn macht, am Schreibtisch zu viel über Absprung und Flug zu philosophieren. Betreffend des Athletiktrainings bitte ich ebenfalls um Geduld, da ich mir erst ein Bild über die Möglichkeiten in Deutschland machen möchte, welche wissenschaftliche Unterstützung wir bekommen können. Gleichzeitig betone ich, dass wir Trainer das Athletiktraining niemals komplett aus der Hand geben sollten, da es hier eine enge Verflechtung zum Techniktraining gibt und uns das kein Spezialist dieser Welt abnehmen kann.

      Die beiden Wissenschaftler vom IAT frage ich nach der Arbeitsweise und ihrer Rolle in den vergangenen Jahren. Das Institut arbeitet schon mehr als ein Vierteljahrhundert mit dem Skisprung zusammen und hat eine große Expertise aufgebaut. Speziell unter den Zeiten von Reinhard Heß, einem meiner großartigen Vorgänger, war die Zusammenarbeit inhaltlich und auch menschlich auf dem Höhepunkt. Fast beiläufig will ich wissen, ob denn die Erkenntnisse, die vor Ort erhoben werden, mit den verantwortlichen Trainern gleich besprochen werden. Die Antwort macht mich hellhörig: »Sowohl als auch. Oft sprechen wir es gleich direkt mit dem Athleten durch und helfen ihm sofort weiter.« Entschlossen entgegne ich: »Ab jetzt sprecht ihr nicht mehr mit den Athleten, bevor ihr nicht mit den verantwortlichen Trainern gesprochen habt!«

      In meinen Augen ist der Trainer die Person, bei der alles zusammenläuft und die letztendlich auch die Verantwortung für die Entwicklung des Athleten trägt. Erkenntnisse aus der Wissenschaft können einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung eines Athleten leisten, aber diese Informationen müssen vorher gefiltert und eine passende Methodik daraus abgeleitet werden.

      Schon wieder ein Tabubruch. Habe ich mir damit auch noch den Zorn von etablierten systemrelevanten Mitarbeitern zugezogen? Ich sehe ein paar zufriedene Gesichter, aber auch einige verunsicherte Kollegen. Wenn sie gedurft hätten, wären sie in Opposition gegangen, aber da der Skiverband einen Neuanfang ausgerufen hatte, müssen sie mitziehen. Im Nachhinein bin ich überzeugt: Hätten wir diese gravierenden Änderungen nicht am Anfang durchgezogen, dann wären wir gescheitert. Das (erfolglose) Gesamtsystem ist zu Beginn am demütigsten, und damit am besten formbar. Zu einem späteren Zeitpunkt wäre Gegenwind garantiert gewesen.

      S K I – Struktur, Kommunikation, Inhalt. Ich möchte keinesfalls simplifizierend agieren, aber in der Praxis braucht es taugliche und einfache Konzepte, die über einen längeren Zeitpunkt durchgezogen und auch gelebt werden. Nur das garantiert nachhaltigen Erfolg. Dazu braucht man aber einen langen Atem.

      Mitarbeiter

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