Скачать книгу

die Kälte ihr in die Knochen drang. Sie hielt Ausschau in der Hoffnung, Pferde und einen Wagen zu entdecken, aber es war nichts anderes zu sehen als Schnee. »Habt ihr keine Pferde?«

      »Wozu?«

      Hirka war drauf und dran, wieder im Schnee stecken zu bleiben.

      »Um darauf zu reiten.«

      War es vielleicht die Sprache? Skerri wirkte nicht sehr gewandt in Ymsländisch. Es war, als spräche sie es nur widerwillig. Aber sie blieb stehen. Drehte sich zu Hirka um und bleckte die Eckzähne. »Sehe ich aus, als müsste ich getragen werden?«

      Hirka schüttelte den Kopf. »So habe ich das nicht gemeint …«

      »Vier Tage. Ginnungad ist vier Tage entfernt.« Skerri ließ ihren Blick über Hirka wandern, von Kopf bis Fuß. Selbst in den blinden Augen war die Enttäuschung offensichtlich. »Sagen wir sechs Tage«, fügte sie bissig hinzu und ging weiter.

      Zuflucht

      Rime kroch übers Dach, bis er an den Rand kam. Er hielt inne. Lauschte. Das Eis am Flussufer knirschte. Aus einem Fenster ein paar Häuser weiter leerte jemand einen Waschzuber. Er wartete noch eine Weile. Musste vorsichtig sein. Hierherzukommen konnte Lindris Leben gefährden.

      Das Teehaus war so etwas wie ein Zufluchtsort geworden. Ein sicherer Ort im Niemandsland. Lindris Tür war immer offen und Rime konnte nirgends anders hin. Jedenfalls nicht, ohne dass sich das Gerücht in Mannfalla verbreitete, und das durfte nicht passieren.

      Nicht, bevor er einen Plan hatte.

      Es war windig geworden. Er rieb sich die Hände, versuchte, Leben in die erfrorenen Finger zu zwingen. Ein Tag und eine Nacht draußen in dieser Kälte, da hatte es selbst die Gabe aufgegeben, ihn warm zu halten.

      Er packte die Dachkante, rollte sich über den Rand und ließ sich hinunter auf die hölzerne Plattform. Sie ragte hinter dem Teehaus ein Stück auf den Fluss hinaus, wie ein Bootssteg. An der Hauswand standen ein Schaukelstuhl und eine eisbedeckte Laterne. Eine Kletterpflanze, die sich um die Balken rankte, war über den Winter verdorrt.

      Durch eine haarfeine Ritze zwischen Tür und Rahmen konnte er drinnen Licht erahnen. Rime klopfte an. Lange blieb es still, dann wurde die Tür ein klein wenig geöffnet. Ein Auge blinzelte durch den Spalt.

      »Ich bin es«, flüsterte Rime.

      Lindri zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt. Die Tür ging mit einem lang gezogenen Knarzen auf. Er ließ die Kerze fallen, die er in der Hand gehalten hatte. Sie rollte über die Plattform und erlosch. Rime hielt sie mit dem Fuß auf. Der Teehändler schnappte nach Luft und schlug das Zeichen des Sehers. Wich zurück.

      Rime ergriff seinen Arm. »Nein! Nein, ich bin nicht tot, Lindri! Hörst du? Ich bin nicht tot.«

      Die Angst in Lindris Augen verblasste. Er zog Rime ins Haus. Rasch steckte er den Kopf hinaus und blickte sich um, ehe er die Tür wieder schloss. So, als hätte er mit mehreren gerechnet oder als könnte er einfach nicht begreifen, wie Rime hierhergekommen war.

      Das Hinterzimmer war eng, vollgestopft mit Kisten und Jutesäcken. Die Luft war schwer von Heustaub. Das löste eine jähe Erinnerung in Rime aus. Hier hatte er mit Schwarzfeuer gestanden, in der Nacht, als die Schwarzröcke nach Reikavik gerudert waren. Sie hatten über Dinge gestritten, die jetzt banal wirkten. Was hatte Schwarzfeuer noch gesagt?

       Du kannst die Welt nicht vom Draumheim aus beherrschen, Junge.

      Lindri drängte ihn weiterzugehen, hinein ins Teehaus. Tische und Bänke standen grau in der Dunkelheit. Die Nacht hatte dem Holz alle Farbe geraubt.

      »Setz dich, setz dich«, sagte Lindri und schob ihn freundlich, aber bestimmt zu einer Bank an der Feuerstelle. Die Flammen waren erloschen, aber etwas von der Wärme hing noch im Raum. Genug, dass Rime begriff, wie durchgefroren er war.

      Lindri stocherte mit dem Schürhaken in den verkohlten Holzresten.

      »Lass gut sein, Lindri. Kein Feuer. Niemand darf wissen, dass ich hier bin.«

      Lindri kramte im Holzstapel. Riss ein Stück Birkenrinde ab und begann Feuer zu machen, als hätte er kein Wort gehört. Rime wollte erklären, wollte warnen, dass es nicht ungefährlich war, ihm Obdach zu geben, aber er wusste, dass Lindri nicht zuhören würde. Der runzlige Teehändler hatte Hirka bei sich aufgenommen, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. Auch nachdem er erfahren hatte, dass sie ein Mensk war. Leere Tische waren der Preis, den er dafür bezahlte.

      Er hatte auch Rime schon beherbergt. Als Rabenträger. Als Damayanti ihm den Schnabel gegeben hatte. Und jetzt als entehrten Ratssohn und Totgeglaubten.

      Das Feuer flackerte auf und begann zu knistern. Tauchte Lindri, der vor den Flammen hockte, in ein warmes Licht. Er war im Nachthemd, wie Rime jetzt sah. Mit einer Strickjacke darüber, die sich an den Ärmeln auflöste.

      Er erhob sich mit sichtlichem Unbehagen und nahm Rime gegenüber Platz. Das Alter hatte seine Augen zuwachsen lassen, hatte sie klein und rund gemacht. Er legte eine schwielige Hand auf Rimes. Die Wärme brannte sich durch eine Schicht von Einsamkeit.

      Rime schluckte. »Du glaubst also nicht, was sie über mich sagen?«

      »Erzähl mir, was passiert ist, dann werde ich dir sagen, was ich glaube«, erwiderte Lindri mit besänftigender Ruhe.

      Rime lachte halb erstickt. Er ließ den Strom der Worte kommen, obwohl er wusste, dass nichts von dem, was er sagte, einen Sinn ergab. Er konnte nicht aufhören. Es war, als ob er zum ersten Mal in seinem Leben etwas Echtes teilte. Also erzählte er. Vom Besuch in der Menschenwelt. Von den Brüdern Graal und Naiell. Einer tausend Jahre alten Feindschaft. Der eine im Exil, der andere der Seher persönlich. Der Seher, den er getötet hatte.

      Die Lüge, mit der er aufgewachsen war, existierte nicht mehr. Stattdessen hatte er die Geschichte von dem Blinden gefunden, der sein eigenes Volk verraten und Ymsland erobert hatte.

      Er erzählte von Hirka und ihrer Abstammung. Dass sie eine von ihnen war. Von denen, die durch die Tore brechen und nach Ymsland kommen würden, um sich zurückzuholen, was sie einst verloren hatten. Und es gab nichts, was er tun konnte, um sie aufzuhalten. Jetzt nicht mehr. Jetzt, da er das bisschen Macht, das er besessen hatte, vergeudet hatte.

      Er redete, bis er keine Worte und keine Kraft mehr hatte. Faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Sah Lindri an. Wartete auf eine Reaktion auf all das, was er gesagt hatte, aber es kam keine. Lindri saß da und nickte vor sich hin. Seine Lider waren so schwer, dass Rime für einen Moment glaubte, er sei eingeschlafen. Aber dann richtete Lindri sich auf und schlug die Hände auf die Schenkel.

      »Die Welt wird also untergehen? Ist es das, was du sagst?«

      »Das ist eine gute Schlussfolgerung«, erwiderte Rime.

      »Ja, dann bleibt nur eins zu tun.« Lindri erhob sich langsam. Die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer, verrieten die Schmerzen in den Knochen.

      »Und was?«, fragte Rime.

      »Tee machen.«

      Lindri ging zum Tresen und zündete eine Kerze unter einer der schwarzen gusseisernen Kannen an. Sie standen in einer Reihe, zeigten alle mit ihren Tüllen in dieselbe Richtung.

      »Tee machen? Ist das die Antwort auf den Untergang der Welt?«

      »Hast du einen besseren Vorschlag?«

      Rime starrte auf die Tischplatte. Sie war grob wie Treibholz, voller Kerben und Wunden.

      Nein, er hatte keinen besseren Vorschlag. Der Sturm würde kommen, ganz egal, was er tat.

      Lindri stellte die Kanne vor ihn auf den Tisch. Ein satter Duft stieg auf. Es roch verdächtig nach etwas sehr viel Stärkerem als Tee. Lindri setzte sich wieder und schob Rime einen

Скачать книгу