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      Pathos

       Solmaz Khorsand

       Inhalt

       Vorwort

       Die Heulhierarchie

       Die Krise als Privileg

       Der Elendsolymp

       Das Stockholm-Pathos

       Die Pathos-PR

       Der Gamechanger

       Der Appell

       Anmerkungen

      Vorwort

      Pathos ist überall. Permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt und wollen das auch mit allen teilen. Am liebsten sofort. Am liebsten mit ganz viel Reichweite.

      Mäßigung gehört nicht zum Zeitgeist. Insbesondere wenn es um die eigene Befindlichkeit geht. Wer von sich selbst dermaßen berauscht ist, will auch die anderen daran teilhaben lassen. Beherrschung ist etwas für Asketen. Gelassenheit für Reiche. Ironie für Überlebende.

      Dem Rest bleibt nur das Pathos. Mit bebendem Tremolo und zeternder Stimme, absurden Metaphern und Stakkato-Interpunktion muss das eigene Drama möglichst breitenwirksam zur Geltung kommen. Schließlich ist alles eine Frage der richtigen Inszenierung. Denn wer sich im Pathoskonzert behaupten will, muss eine Performance an den Tag legen, die sich analog und vor allem digital dermaßen abhebt, dass sie tatsächlich gehört, gesehen, gespürt und vor allem angeklickt wird.

      Pathos bedeutet Macht. Erst wenn die eigene Bewegtheit andere bewegt, kommen die Dinge ins Rollen. Plötzlich werden vermeintliche Werte und Normen in Frage gestellt. Mit einem Mal interessiert sich die Öffentlichkeit für die Erforschung einer Krankheit, für die es vorher keine Gelder gab. Plötzlich werden Gesetze verabschiedet, die davor nur eine Minderheit betroffen haben. Plötzlich werden Statuen von der Straße ins Museum verbannt, weil sie nun für die Allgemeinheit eine dunkle Ära repräsentieren, nicht nur für ein paar Übersensible.

      Pathos bedeutet Veränderung. Kann Veränderung bedeuten. Denn sein Einsatz spiegelt die herrschenden Machtverhältnisse wider. Wer traut sich öffentlich seiner Befindlichkeit zu frönen, wer bekommt den Raum dafür zugestanden und wer nicht? Wer wird dabei ernst genommen und wer pathologisiert?

      Macht es einen Unterschied, ob eine Frau ihre Gefühlswelt mit der Welt teilt oder ein Mann? Eine Schwarze oder eine weiße Frau? Eine Schwarze oder weiße Frau, die obdachlos ist, die im Rollstuhl sitzt, die Alleinerzieherin ist?

      Ja, ja und ja. Es macht einen Unterschied. Den einen wird für ihren Mut gratuliert, sie werden für ihre Sensibilität gefeiert, dafür, dass sie bereit waren, dermaßen intime Einblicke in ihre Realität, ihren Alltag, ihre Verletzlichkeit zu gewähren. Die anderen sollen bloß nicht pathetisch sein, so viel jammern und immer nur fordern. Bei den einen wird ihr Pathos übersetzt in Gesetzesinitiativen und schafft es auf die politische Agenda, in den medialen Diskurs. Bei den anderen reicht es höchstens für eine Gegenforderung: Resilient soll man ein bisschen sein. Ist doch alles nicht so schlimm, oder?

      „Die Reichen sind anders als wir“, hat der amerikanische Autor F. Scott Fitzgerald einmal geschrieben, „sie sind weich, wo wir hart sind.“1

      Wem zugestanden wird weich zu sein, darf bei der kleinsten Unannehmlichkeit aufheulen. Wem dieses Verständnis verwehrt wird, der muss schon härtere Geschütze auffahren, um sich Gehör zu schaffen. Bei ihm muss das Erlebte „richtig schlimm“ sein. Richtig schlimm und richtig oft. Erst mit der „Intensität des Schweregrads“ und der „Extensität der Frequenz“ hat eine Minderheit die Chance, von einer stillen Mehrheit gehört zu werden, sagt der deutsche Kommunikationswissenschafter Armin Scholl. Etwa erst wenn genug Schwarze Körper unter weißen Knien ersticken, setzt sich etwas in Bewegung. Dann spitzen sich plötzlich die Ohren aller. Dann färben sich selbst bei den unpolitischsten Menschen die oft so bunten Kacheln in den sozialen Medien schwarz.

      Wenn das Extrem erreicht ist, gibt es für alle ein Stück vom Pathoskuchen. Aber nicht eher. Und auch nur, wenn sich das Pathos so darstellt, wie es von einer Mehrheit erwartet wird. Dann erst kann ihm eine Bedeutung zugeschrieben werden. Ohne die richtigen Codes ist es zwecklos. „Es genügt nicht, dass man etwas sagt. Es gehört im richtigen Moment, im richtigen Tonfall und in der richtigen Intensität gesagt“, erklärt die Wiener Psychoanalytikerin Ulrike Kadi im Gespräch. Wer das nicht tut, läuft Gefahr nicht nur nicht gehört zu werden, sondern als Lügner oder Simulantin abgestempelt zu werden. Auch Pathos muss sich an ein Skript halten. Nur dann hat es eine Chance, auf fruchtbaren Boden zu fallen.

      Es ist ermüdend, dem Pathoskonzert auf Dauer zuzuhören. Insbesondere wenn es einer Melodie folgt, die sich permanent wiederholt, da sie immer von denselben Akteuren gesummt wird.

      Vielleicht auch deswegen, weil dadurch das eigene Pathos keinen Raum für seine Wirksamkeit hat. Weil das fremde Pathos so dominant ist, dass es sogar in die hintersten Winkel des eigenen Selbsts zu wirken beginnt. Fast so als stünde man unter fremder Besatzung. So viel zu pathetischen Metaphern.

      „A writer by definition is pathetic“, soll der amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Ethan Coen einmal gesagt haben. Daher ist natürlich auch dieses Buch ein pathetischer Ausbruch. Obgleich dieser ausgelöst wurde von Pathos-Fatigue, genährt durch die Beobachtung einer privilegierten Schicht, die mit einer Dringlichkeit ihre Befindlichkeit kundtut, als verdiene jedes Gefühl und jeder Gedanke die Bühne und die Gravitas, mit der das persönliche Drama einer Öffentlichkeit mitgeteilt wird.

      Das tut es nicht.

      Es ist Lärm, der Raum einnimmt, der Diskurse bestimmt, der Aufmerksamkeit bündelt und monopolisiert. Daher der pathetische Appell: Bitte hin und wieder diese Bühne zu räumen. Hin und wieder die Lautstärke runterzudrehen. Hin und wieder einfach nur still zu sein. Es ist ein Appell vor allem an all jene, die sich gerne als Verbündete einer guten Sache verstehen. Das eigene Pathos darf gedrosselt werden. Nur ab und zu.

      Die Heulhierarchie

      Des einen normal ist des anderen pathetisch

      Es gibt Worte in der englischen Sprache, die sich wunderbar schnauben lassen. Mit Arroganz, Ekel und Widerwillen. Man möchte sie regelrecht ausspucken, so viel Verachtung haftet jeder Silbe an. Pathetic ist so ein Wort. Wem es entgegengeschleudert wird, soll sich nicht nur der Erbärmlichkeit seiner Handlung oder gar seiner selbst gewahr sein, er soll sich ihrer auch schämen. Das deutsche Adjektiv pathetisch ist da nicht ganz so gnadenlos. Hier schwingt noch ein Hauch der Schillerschen Romantik mit, in der das Pathos seine Hochzeit erlebte und als erhaben und hehr galt. Doch eben nur ein Hauch. Wer heute im deutschsprachigen Raum von Pathos spricht, meint zumeist Schwulst, Kitsch, Übertreibung. Vom falschen Pathos ist dann die Rede, vom hohlen, vom verlogenen, vom manipulativen.

      Was Pathos konkret bedeutet, damit schlagen sich Literaturwissenschaft, Philologie und Philosophie seit Jahrhunderten herum. Einen gemeinsamen Nenner für seine Definition gibt es nicht, höchstens eine etymologische Annäherung,

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