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Der letzte Mensch. Mary Shelley
Читать онлайн.Название Der letzte Mensch
Год выпуска 0
isbn 9783159618371
Автор произведения Mary Shelley
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich tröstete sie, so gut ich konnte. Ich war ganz Freude und Jubel, jetzt wo sie mir gehörte und ich sie retten durfte. Um aber keine neue Aufregung in ihr zu erregen, und »um der Stirne heitern Frieden nicht zu stören«, zügelte ich meine Freude. Ich bemühte mich, den aufgeregten Tanz meines Herzens zu beruhigen, wandte meine mit einem Übermaß an Zärtlichkeit strahlenden Augen von ihr ab und murmelte stolz meine Empfindungen in die dunkle Nacht und die kalte Luft hinaus. Wir kamen in London an, viel zu früh, wie mich dünkte; und doch konnte ich unsere baldige Ankunft nicht bereuen, als ich Zeuge der Freude wurde, mit der mein geliebtes Mädchen sich ihrem Bruder in die Arme warf, sicher vor allem Bösen unter seinem untadeligen Schutz.
Adrian schrieb eine kurze Notiz an seine Mutter und informierte sie, dass Idris unter seiner Obhut und Vormundschaft sei. Mehrere Tage verstrichen, und endlich traf eine Antwort aus Köln ein. »Es sei nutzlos«, schrieb die hochmütige und enttäuschte Dame, »dass der Graf von Windsor und seine Schwester sich an ihre beleidigte Mutter wandten, deren einzige Hoffnung auf Ruhe aus dem Vergessen ihrer Existenz gezogen werden müsse. Ihre Wünsche seien verworfen, ihre Entwürfe vernichtet worden. Sie beklage sich nicht, sie werde am Hof ihres Bruders zwar keine Entschädigung für ihren Ungehorsam finden (die kindliche Lieblosigkeit schlösse eine solche aus), aber einen solchen Stand der Dinge und Lebensalltag, der sie am besten mit ihrem Schicksal versöhnen könnte. Unter diesen Umständen lehne sie jegliche Verbindung mit ihnen ab.«
Dies waren die seltsamen und unglaublichen Ereignisse, die schließlich zu meiner Vereinigung mit der Schwester meines besten Freundes, mit meiner angebeteten Idris führten. Mit Einfachheit und Mut fegte sie die Vorurteile und den Widerstand beiseite, die meinem Glück im Wege standen, und sie scheute sich nicht, dem die Hand zu geben, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Ihrer würdig zu sein, sich durch die Ausübung von Talenten und Tugend zu ihrer Größe zu erheben, ihre Liebe mit hingebungsvoller, unermüdlicher Zärtlichkeit zu erwidern, war der einzige Dank, den ich ihr für das unvergleichliche Geschenk anbieten konnte.
Kapitel 6
Und nun soll der Leser, indem wir über eine kurze Zeitspanne hinweggehen, in unseren glücklichen Kreis eingeführt werden. Adrian, Idris und ich nahmen unseren Wohnsitz in Schloss Windsor; Lord Raymond und meine Schwester bewohnten ein Haus, das der Erstere an der Grenze des großen Parks errichtet hatte, in der Nähe von »Perditas Hütte«, wie das niedrige Häuschen noch immer genannt wurde, wo wir beide, arm selbst an Hoffnung, das Faustpfand unserer Glückseligkeit erhalten hatten. Wir hatten getrennte Beschäftigungen und gemeinsame Vergnügungen. Zuweilen verbrachten wir ganze Tage mit unseren Büchern und Musik im belaubten Schutz des Waldes. Dies geschah während jener seltenen Tage in diesem Land, wenn die Sonne in ungetrübter Majestät ihren Äther-Thron besteigt und die windstille Atmosphäre wie ein Bad aus klarem und wohltuendem Wasser ist, das die Sinne in Gelassenheit hüllt. Wenn die Wolken den Himmel verschleierten und der Wind sie hierhin und dorthin blies, sie zerteilte und ihre Bruchstücke durch die luftigen Ebenen verstreute – dann ritten wir aus und suchten neue Stellen der Schönheit und der Ruhe. Wenn die häufigen Regenfälle uns ins Haus verbannten, folgte abendliche Erholung, von Musik und Gesang eingeleitet, dem morgendlichen Studium. Idris hatte ein natürliches musikalisches Talent; und ihre Stimme, die sorgfältig ausgebildet worden war, war voll und süß. Raymond und ich waren Teil des Konzerts, Adrian und Perdita die ergebenen Zuhörer. Dann waren wir heiter wie sommerliche Insekten, verspielt wie Kinder; wir trafen uns stets mit einem Lächeln und lasen Zufriedenheit und Freude in den Gesichtern der anderen. Unsere schönsten Feste fanden in Perditas Hütte statt; auch wurden wir es nicht müde, von der Vergangenheit zu reden oder von der Zukunft zu träumen. Eifersucht und Unruhe waren uns unbekannt; und nie störte eine Angst oder Hoffnung auf Veränderung unsere Ruhe. Andere sagten: Wir könnten glücklich sein – wir sagten – wir sind es.
Wenn irgendeine Trennung zwischen uns stattfand, so geschah es für gewöhnlich, dass Idris und Perdita zusammen fortgingen und Adrian, Raymond und ich zurückblieben, um politische und philosophische Themen zu besprechen. Gerade die Verschiedenheit unserer Anlagen verlieh diesen Unterhaltungen einen besonderen Reiz. Adrian war in Gelehrsamkeit und Beredsamkeit überlegen; Raymond hingegen besaß eine schnelle Auffassungsgabe und praktische Lebenserfahrung, die sich gewöhnlich gegensätzlich zu Adrians darstellten, und hielt so die Diskussion aufrecht. Zu anderen Zeiten unternahmen wir mehrtägige Exkursionen und durchquerten das Land, um jeden Ort zu besuchen, der seiner Schönheit oder seines historischen Bezuges wegen bekannt war. Zuweilen gingen wir nach London und mengten uns in die Vergnügungen der geschäftigen Menge; zuweilen fielen Besucher aus ihrer Mitte in unseren Rückzugsort ein. Diese Veränderung machte uns nur um so empfänglicher für die Freuden des vertraulichen Umgangs unseres eigenen Kreises, der Ruhe unseres ehrwürdigen Waldes und unserer glücklichen Abende in den Hallen unseres geliebten Schlosses.
Das Wesen Idris’ war besonders offen, sanft und zärtlich. Ihr Gemüt war unveränderlich heiter; und obschon sie in jedem Punkt, der ihr Herz berührte, fest und entschieden war, war sie doch denen ergeben, die sie liebte. Das Wesen Perditas war weniger vollendet, doch Zärtlichkeit und Glück veredelten ihren Charakter und milderten ihre natürliche Zurückhaltung. Ihr Verständnis war klar und umfassend, ihre Vorstellungskraft lebendig; sie war aufrichtig, großzügig und vernünftig. Adrian, der unvergleichliche Bruder meiner Seele, der einfühlsame und vortreffliche Adrian, der jeden liebte und von jedem geliebt wurde, schien jedoch dazu bestimmt zu sein, seine andere Hälfte, die sein Glück vervollständigen sollte, nicht zu finden. Er verließ uns oft und wanderte allein in den Wäldern oder segelte in seinem kleinen Boot, mit seinen Büchern als seinen einzigen Begleitern. Er war oft der Fröhlichste unserer Gesellschaft, dann wiederum war er jedoch auch der Einzige, der von Anfällen der Verzweiflung heimgesucht wurde. Sein schmaler Körper schien unter dem Gewicht des Lebens zu straucheln, und seine Seele schien eher seinen Körper zu besetzen als sich damit zu vereinigen. Ich war meiner Idris kaum ergebener als ihrem Bruder, und sie liebte ihn als ihren Lehrer, ihren Freund und den Wohltäter, der ihr die Erfüllung ihrer innigsten Wünsche gesichert hatte. Raymond, der ehrgeizige, ruhelose Raymond, thronte in der Mitte der großen Straße des Lebens und war damit zufrieden, all seine Pläne der Souveränität und des Ruhms aufzugeben, um eine von uns, die Blume des Feldes, zu gewinnen. Sein Königreich war das Herz Perditas, seine Untertanen ihre Gedanken; durch sie wurde er geliebt, als überlegenes Wesen respektiert, bedient, ihm gehorcht. Kein Dienst, keine Andacht, kein Anschauen war ihr lästig, soweit es ihn betraf. Sie pflegte abseits von uns zu sitzen und ihn zu beobachten; sie weinte vor Freude, wenn sie daran dachte, dass er ihr gehörte. Sie errichtete in der Tiefe ihres Wesens einen Tempel für ihn, und jede ihrer Fähigkeiten war eine Priesterin, die seinem Dienst verpflichtet war. Zuweilen war sie eigensinnig und launisch, doch ihre Reue war stets bitter, ihre Umkehr umfassend, und sogar diese Unausgewogenheit ihres Temperaments passte zu ihm, der von der Natur nicht dazu geschaffen wurde, sich müßig den Strom des Lebens hinabtreiben zu lassen.
Im ersten Jahr ihrer Ehe schenkte Perdita Raymond ein hübsches Mädchen. Es war seltsam, in diesem Miniaturmodell die Züge seines Vaters wiederzufinden. Die gleichen halb spöttischen Lippen und das triumphierende Lächeln, die gleichen intelligenten Augen, die gleiche Stirn und das kastanienbraune Haar; selbst ihre Hände und Finger ähnelten den seinen. Wie sehr Perdita sie liebte! Nach einer Weile wurde auch ich Vater, und unsere kleinen Lieblinge, unsere Kostbarkeiten und Freuden, riefen tausend neue und köstliche Gefühle hervor.
So vergingen Jahre – gleichförmige Jahre. Monat folgte auf Monat, und Jahr auf Jahr; wahrhaftig, unser Leben war ein lebendiger Kommentar zu diesem schönen Ausspruch von Plutarch, dass »unsere Seelen eine natürliche Neigung haben zu lieben, dazu geboren werden, ebenso zu lieben, als zu fühlen, zu denken, zu verstehen und zu erinnern«. Wir sprachen von Veränderung und davon, diese in die Tat umzusetzen, blieben aber in Windsor, unfähig, den Zauber zu brechen, der uns an unser abgeschiedenes Leben fesselte.
Ich bin es, der in vollem Zug genießt,
Was Menschenkindern beut der Glückesbronnen,
Der