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      Max Geißler

      Die Herrgottswiege

      Roman

      Saga

      1.

      Der Waldwinkel.

      In einem Grenzgebirge unseres deutschen Vaterlandes liegt ein sehr schönes Tal, das trägt den Namen die Herrgottswiege.

      Derartige Ortsbezeichnungen haben für die Menschen der Einsamkeit nichts Wunderliches; diese Menschen sind zwar meist wortkarg, und je älter sie werden, desto tiefer zieht das Schweigen in Falten um ihren Mund, bis zuletzt so viele Haken und Furchen sich ineinanderhängen, dass es scheint, als könne nur ein grosser Schreck die schmalen Lippen sprengen; aber sie sind nachdenklichen Gemüts, und es schlagen sich aus ihren Herzen tausend Fäden zu allen Dingen, die um sie sind.

      Fremden gegenüber sind sie in jenem Gebirge von einer fast störrischen Verschlossenheit; denn sie verachten die hochmütige Art der Städter, die sich gemeinhin für etwas besseres halten, etwa weil sie elektrisches Licht brennen, sich alle Jahre zweimal nach einer neuen Mode einkleiden und ein wenig Gelehrsamkeit aus der Schule ins Leben tragen, die nicht einmal so viel wert ist, dass sie darüber vor der Lächerlichkeit bewahrt bleiben.

      Diese Einsamen wissen auch, dass sie nicht so über die Welt und ihre Erscheinungen reden können, wie es denen draussen geläufig ist, und dass sie nicht zehn Worte für jedes Ding haben, mit denen sich über alles schwätzen lässt, was einem vorgedruckt oder vorgedacht worden ist — sondern an ihnen ist alles einfältig ... was von töricht hinwiederum so weit entfernt ist wie der Himmel von der Erde.

      Weil sie alles, was sie reden, zuvor selbst und gründlich gedacht haben und das Denken seine Zeit braucht, kommen sie selten zum Worte. Und weil die wenigen Dinge, die sie seit dem ersten Tage ihres Lebens gesehen haben, für dies ganze Leben um sie stehen bleiben, so denken sie sich noch viel tiefer in sie hinein als in ihr eigenes Herz; denn dieses sehen sie nicht. Jene Dinge aber — seien es wie in der Herrgottswiege die Wälder, das Gestein, die Quellen, die Säume oder die blauen Türen des Himmels, hinter die sie sich die Wohnung Gottes dichten, und noch etliches andere — jene Dinge bekommen in ihren Augen oft ein fast seltsames Leben. Und daher rühren die mancherlei Bezeichnungen, die für den, der von draussen in die Einsamkeit solcher Menschen tritt, meist etwas herrlich Belebtes haben.

      Warum diese Namen dasind, wissen sie wohl, aber sie reden dem Fremden gegenüber doch nicht davon, weil sie meinen, er lache darüber, oder weil man von derlei Selbstverständlichkeit überhaupt nicht spricht.

      Dagegen erscheint ihnen der Gedanke töricht, dass es einmal eine Zeit gegeben haben könne, in der die Bezeichnung dieses oder jenes Ortes noch nicht dagewesen sei; denn sie sind darüber mit sich einig: der Name — weil sie nie einen anderen hörten — müsse so ungeheuer lange bestehen, dass es gar keine andere Möglichkeit gebe, als: er war schon immer.

      So trug auch die Herrgottswiege ihren Namen schon immer, und es konnte auch gar nicht anders sein; denn erstens ist es eine Talmulde von ganz ungemeiner Lieblichkeit. Von Hang zu Hang schlägt sich der sanfte Bogen eines sehr dichten und im späten Frühling sehr blumenreichen Rasens. Es zerschneidet — wie das bei Gebirgstälern die Regel ist — kein Wasser dieses köstliche Rund der Wiese, und doch hat der Grund zu allen Zeiten genau den Grad von Feuchtigkeit, den er braucht, um im Verein mit der Luft und der Sonne den Teppich des köstlichsten Grases zu weben, der sich denken lässt.

      Dieser Teppich liegt noch ein Stück an den beiderseitigen Hängen empor, gleichsam als hätten die Fichten ihre Füsse auf seine Säume gestellt; denn nach dem Rasen kommt hüben und drüben ein dunkelgrüner Bergwald, ebenfalls von ganz unvergleichlicher Schönheit.

      In diesem Walde fliesst an beiden Talwänden ein fussbreites Wasser, aus dem er seine Kraft und Schönheit trinkt, bis er geschlagen wird, was immer nach achtzig Jahren geschieht. Alle achtzig Jahre kommen dann die Fuhrwerke der Holzhändler und führen die Stämme fort.

      Von den fussbreiten Wässern im Walde wissen die Menschen, dass sie wohl vordem — natürlich vor einer ungeheuren Menge von Jahren — ein einziger Bach gewesen seien, der mitten durch das Tal floss, diesem Tale seine sanfte Rundung wusch und die Schätze des Bodens aus dem oberen Walde herbeitrug, aus denen nun in jedem Jahre das grüne Wunder des Rasens steigt.

      An jener Stelle, an der aus den Klüften und der Dunkelheit des oberen Waldes der Bach in die Herrgottswiege fiel, haben ihn einmal Menschen in die Bahnen an den Talhängen geleitet, in denen er noch heute ist. Von dem einstigen Bett ist jede Spur verloren, seit er die Wiege mit beiden Armen umfängt. Die ihm den Weg an die Hänge wiesen, meinten wohl: wenn es käme, dass auf dem Grunde so viel des Wassers zu wenig würde, wie es zu seiner Zeit oft zu viel gewesen sein mag, so könne man die Bächlein durch zwei Staue zum Überlaufen bringen und so lange die Hänge und die Talsohle bewässern, als man Lust habe. Die Staue sind aber, soweit Menschen denken, nicht gesehen worden; denn sie haben sich nie als nötig erwiesen — wenn sie überhaupt jemals dagewesen sind.

      Die Leute meinen: so alt wie die Teilung des Baches, ist auch der Wald an den Hängen; denn vordem hat der Sonnenbrand Stein und Erdreich geglüht, wo nun die dunkelgrünen Streifen der Fichten sind.

      Weiter hinauf wachsen die Mauern und Türme zerklüfteten Gesteins; darin treiben Stürme, Regen und Winter ihr Wesen. Sie zermahlen den Fels in den Rissen; es fliegt ein Same hinein und steigt ein neues kümmerliches Leben daraus.

      Und ganz oben ist der Himmel; der ruhet diesseits und jenseits des Tales auf den Mauern und Türmen. Und wer wissen möchte, warum diese reinlich hingebettete Schönheit den Namen Herrgottswiege führt, der braucht nichts zu tun, als etwa an einem Sommermittage sich auf den Rasenteppich zu legen und mit offenen Augen gegen die blaue Kuppel des Himmels zu schauen. Dann ist plötzlich ein sanftes Wiegen um ihn; das fängt bei den Wipfeln der Fichten an; die Wässer plaudern dazwischen, als wollten sie helfen, und zuletzt ist das weiche Schaukeln im ganzen Tale, als stünde der Herrgott irgendwo hinter den Felsen und zöge heimlich an einem goldenen Bande von Sonne.

      Das Tal ist nach Mittag hin offen, und — als habe das Waldgebirge zwei mächtige Arme ausgestreckt — greifen die beiden Felsmauern gegen Süden, fassen eine Fülle von Licht und stellen sich gegen die Stürme.

      Die Decke des Rasens reicht nach rückwärts nicht bis an das Ende des Tals, sondern nur bis an die wenigen Häuser, die gegen dies Ende hin an den sanften Lehnen unter den Waldstreifen oder in der Wiese stehen. Zwischen ihnen führen schmale Steige durch das Gras. Es ist auch ein breiterer Fahrweg da, der aber nach der offenen Seite des Tales zu so gut wie garnicht benutzt wird, sondern nur an dem Teil auf der rückwärtigen Seite des Dorfes — wenn man die Handvoll Häuser denn ein Dorf nennen will —, der durch den Wald führt.

      Die Häuser heissen im ganzen Gebirge wie der Talgrund: die Herrgottswiege.

      Auf dem Waldwege fahren die Leute im Herbst die Streu für die wenigen Stücke Vieh in ihre Schuppen, und sie nennen ihn den Kirchsteig; denn die Herrgottswiege ist einem Dorfe jenseits des Höhenzuges im Norden eingepfarrt. Auch müssen die Kinder diesen reichlich einstündigen Weg, der in seinem oberen Teile recht beschwerlich ist, zur Schule gehen — immer unter dem Dache der dunklen Bergfichten, die so hart an den Pfad treten, dass man nur ein ganz schmales Band des Himmels sehen kann.

      Nach Süden zu beginnen vor der Talöffnung alsbald wieder grosse gräfliche Forsten, so dass in dieser Richtung von menschlichen Wohnstätten auf eine noch längere Wegstrecke nichts liegt als einmal das Haus eines Försters oder Waldhüters.

      Die Leute, die in der Herrgottswiege leben, sind fast alle darin geboren, woher es kommt, dass auch jedes Geschehnis alle angeht. Sie wissen gewöhnlich schon von Kindheit an, welche von ihnen als Paare später ganz zu einander gehören werden; und wenn es sich ereignet, dass von den Mädchen eins durch eine Liebe aus dem Tale geführt wird, so trägt es neben seinem Glück auch das Samenkorn eines quälenden Heimwehs mit hinaus.

      Das Tal ist von einem so köstlichen Sonnenfrieden und so ungemeiner Lieblichkeit, dass es deswegen wahrscheinlich auf seine ganze Länge mit Häusern bebaut wäre. Aber vor mehr als zweihundert Jahren haben die vier Besitzer, die damals in der Herrgottswiege wohnten, einen Vertrag gemacht, dass

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