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versuchten Rose und ich, so viel wie möglich über unsere Gegner in Erfahrung zu bringen. Welche Schwächen besaßen sie? Wie äußerten sich ihre Stärken? Wie konnte man sie in eine Falle locken?

      »Bring mir das Buch!«, verlangte die Hexe.

      Vorsichtig drehte ich mich im Kreis, um herauszufinden, aus welcher Richtung ihre Stimme kam. Noch immer war ich allein.

      »Bring mir das Buch, oder es wird dich umbringen. Ich werde dich umbringen.«

      Etwas biss mich in den Unterarm, so fest, dass ich zusammenzuckte und alle Mühe hatte, nicht vor Überraschung und Schmerz aufzuschreien. Als ich den Blick auf meinen Unterarm richtete, blickte mich die Kreuzotter, die sich von den Seiten des Buches auf meinen Arm geschlängelt hatte, bösartig an.

      Zeig dich, hätte ich der Hexe am liebsten entgegengeschleudert. Dann bring ich dir dein verdammtes Buch. Aber ich hielt mich zurück.

      »Wie heißt du?«, fragte die Hexe, jetzt wieder lockend. »Verrat mir deinen Namen.«

      Plötzlich wuchs eine Wand aus Eis vor mir aus den Felsen und versperrte mir den Weg ins Tal. Überall um mich herrschte Sommer, doch vor mir erstreckte sich über die ganze Breite des Pfades eine glatte Eisfläche, die mehrere Mannslängen hoch war. Durch ihre durchscheinende Oberfläche glaubte ich einen dunklen Schemen zu erkennen. Die Gestalt einer Frau, die sich auf mich zubewegte. Die Hexe.

      »Da bist du«, sagte die Fremde, und ich konnte sehen, wie sie eine Hand auf ihre Seite der Eiswand legte. Sie schien groß zu sein, größer als ich, und schlank. Mehr konnte ich nicht erkennen. Das Eis war dick und verzerrte die Konturen der Hexe. Ich erkannte nur undeutlich ihre Gestalt, jedoch keine Gesichtszüge.

      »Das Buch gehört dir nicht«, sagte die Hexe. »Gib es mir, und ich mache dich reich.«

      Ich tat ihr noch immer nicht den Gefallen, zu antworten. Stattdessen holte ich ein kleines Beutelchen aus meinem Ranzen, in dem ich Salz aufbewahrte.

      »Du musst mir nur verraten, wo du bist«, lockte die Hexe, ganz so, als hätte sie mir nicht erst vor einem Augenblick mit dem Tod gedroht.

      Sie kann nicht zu mir kommen, erkannte ich. Das Eis schützt nicht nur sie, es schützt auch mich.

      Das war seltsam. Wir starrten uns an, auch wenn wir uns nicht richtig erkennen konnten. Aus dem Nichts erblühten Blumen in der durchsichtigen Wand. Zuerst hielt ich sie für Rosen. Dann erkannte ich, dass es Blut war, erstarrt im kalten Griff des Eises. Die Symbole aus dem Grimoire umschlangen meine Arme inzwischen wie glühender Draht. Die Hand, mit der ich den Dolch hielt, zitterte.

      Silber tötet Hexen, versuchte ich mich zu beruhigen. Falls sie die Eiswand durchbricht, ist sie geliefert. Aber ich wusste, so einfach würde es nicht werden.

      »Verrat mir deinen Namen«, forderte die Hexe.

      Ich schnaubte. »Verrat du mir erst deinen.«

      Wieder musterten wir uns und selbst die Zeichen auf meiner Haut erstarrten für einen Augenblick, als wollten sie abwarten, was als Nächstes geschah.

      »Margarete«, flüsterte die Hexe.

      Zorn durchflutete mich, heißer und heftiger als der Biss der Hexenmale.

      »Du hast kein Recht auf diesen Namen!«, fauchte ich, hob den Arm und stieß die Spitze des Dolches direkt ins Eis. Als das Silber das gefrorene Wasser berührte, verwandelte es sich in einen Spiegel. Plötzlich sah ich nicht mehr den Schemen meiner Gegnerin, sondern mich. Ausgehend von der Stelle, auf die ich mit dem Dolch eingestochen hatte, zogen sich haarfeine Risse über die Oberfläche. Gleichzeitig trug mich mein eigener Schwung nach vorn. Während um mich herum Teile des Spiegels in einem Splitterregen zu Boden fielen, machte ich einen Ausfallschritt.

      Und plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, befand ich mich nicht mehr auf einem Bergpfad in der Anderswelt, sondern auf einem bewaldeten Hügel. Die Bäume um mich herum waren einfache Bäume, in deren Unterholz Wildtiere raschelten. Es roch auch nicht mehr nach Glockenblumen, sondern nach Pilzen, Holz und Erde. Und neben mir stand Rose.

      Ich befand mich im Zarenreich. Von der Hexe war weit und breit nichts zu sehen.

      »Na, das ging ja wirklich schnell«, sagte Rose und wandte sich mir zu. Als ihr Blick auf mich fiel, riss sie die Augen auf. »Geht es dir gut?«

      Ehe ich antworten konnte, hörten wir hohe, klagende Laute.

      Schwanensee

      Was ist das?«, fragte ich. Die Geräusche klangen surrend, eindeutig nicht menschlich, doch voller Emotion. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Rose umgriff ihren Kampfstab und zuckte mit den Schultern. »Sehen wir nach.«

      Zügig schritten wir zwischen den Bäumen hindurch, meine Finger schlossen sich fest um den Dolchgriff – Rose’ Dolch. Als wir in der Abenddämmerung aus dem Schatten der Bäume traten, bot sich uns ein seltsamer Anblick. Ein See lag wie ein glitzernder Lapislazuli im Talkessel. Der Abhang vor uns war, anders als die anderen um das Wasser herum, völlig frei von Baumbestand und mit Gras bewachsen. Am Ufer des Sees, wo der Boden abflachte, hatte jemand einen notdürftigen Lagerplatz aufgeschlagen: eine kleine Gruppe Männer und Frauen in kostbaren Gewändern, die um eine Feuerstelle herumstanden und mit in den Nacken gelegten Köpfen in den Himmel starrten. Dort kreisten sieben Schwäne in der Luft. Sie waren nicht weiß wie die meisten ihrer Artgenossen, und auch nicht schwarz wie manche von ihnen, sondern silbern. Die Strahlen der untergehenden Sonne glänzten auf ihren Federn und verwandelten die Vögel in gleißende Lichtgeschöpfe. Sie streckten die langen Hälse aus und stießen mit ihren Schnäbeln jene Geräusche aus, die wir als klagende Laute wahrgenommen hatten. Das Seltsamste an ihnen war jedoch weder die Färbung ihres Gefieders noch ihre schaurig-berührenden Rufe, sondern die ungewöhnlich langen Schnäbel, die sie im Flug leicht geöffnet hatten. Sie waren fast so lang wie die von Störchen und ich fragte mich, ob sie ebenso lange Beine hatten oder wie sie sonst ihr Futter suchten. Dann jedoch war dieser Gedanke vergessen und ich verlor mich in der Schönheit des Augenblicks, im Anblick dieser majestätischen Vögel, die fliegenden Edelsteinen gleich über dem Wasser kreisten.

      Wie die Menschen am Ufer, standen Rose und ich einfach nur da und lauschten ihrem seltsamen Gesang. Tränen stiegen mir in die Augen. Ob das daran lag, dass ich so berührt von der Begegnung mit den wilden Tieren war oder am strahlenden Licht, das ihre Federn reflektierten, wusste ich nicht.

      Erst als dieses Strahlen langsam nachließ, wurde mir bewusst, dass die Sonne bereits fast hinter den Bäumen untergegangen war.

      Ohne Vorwarnung wurde das Klagen der Schwäne schriller. Einer der Vögel löste sich aus der Kreisformation und flog im Sturzflug auf die Wasseroberfläche zu. Die anderen schlossen sich ihm an. Ihr Gesang verstummte. Im ersten Moment glaubte ich, sie wollten sich wie Taucher aus großer Höhe in den See stürzen. Dann wieherten Pferde erschrocken auf und ich begriff, dass die Vögel nicht auf das Wasser zustürzten, sondern die Menschen dort anvisierten.

      »Muireann!« rief Rose in diesem Moment.

      Sie hatte bereits ihren Kampfstock in beide Hände genommen und rannte den Abhang hinunter.

      Die Schwäne stürzten sich auf die Menschen. Ihre langen Schnäbel erinnerten mich plötzlich an Schwerter. Die Fremden schienen noch immer wie in Trance, begriffen nicht, was um sie herum wirklich geschah.

      »Achtung!« brüllte ich, doch sie hörten mich nicht. Wie der Wind flog auch ich bergab. Ich musste den Drang unterdrücken, Rose’ Dolch aus der Scheide zu ziehen. Stattdessen angelte ich nach der Schleuder und dem kleinen Säckchen, die Seite an Seite an einer meiner Gürtelschlaufen angebracht waren. Noch im Laufen löste ich den Verschluss und holte eine Handvoll spitzer Steine hervor. In die Menschen am Ufer kam endlich Bewegung.

      »Deckung!«, rief einer der Männer und griff in die Lagerfeuerstätte, um einen schweren Ast emporzureißen. Ein anderer zerrte derweil ein Kurzschwert aus der Scheide und stellte sich schützend vor eine hochgewachsene Frau in einem atemberaubenden

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