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Der Mann, der alles sah. Deborah Levy
Читать онлайн.Название Der Mann, der alles sah
Год выпуска 0
isbn 9783311701668
Автор произведения Deborah Levy
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich begriff nicht, was er meinte. Ich wiederholte die Botschaft, lieferte dazu meinen Namen und die Angaben zur Kreditkarte. Diesmal war meine Stimme weniger schwach. Es entstand eine Pause, dann sagte Mike: »Ich spreche kein Deutsch. Ich glaube jedenfalls, dass es Deutsch ist, aber was Sie auch sagen, denken Sie dran, wir haben den Krieg gewonnen.«
Ich konnte ihn lachen hören, als ich die Botschaft noch einmal wiederholte. Während er lachte, merkte ich, dass ich meine Botschaft in Englisch dachte, sie aber laut auf Deutsch aussprach, deshalb wechselte ich zu Englisch: »Sweet Jennifer, good luck for the show, from the careless man who loves you.« Nachdem ich bestätigt hatte, dass careless zusammengeschrieben wurde – anders als bei care less, wenn einem etwas egal ist –, war alles in trockenen Tüchern. Mike sagte, er habe mir gern geholfen, und sein richtiger Name sei nicht Mike. Und wenn er noch dazu gewusst hätte, dass ich Fremdsprachen beherrsche, hätte er mir seinen vollen Namen genannt. »Passen Sie jedenfalls auf sich auf, Saul.«
An diesem Tag hatten zwei Menschen zu mir gesagt: »Passen Sie auf sich auf, Saul.«
Als ich die Dusche aufdrehte und mir das Blut von den Knien wusch, war ich darüber entsetzt, dass Jennifer nicht gemerkt hatte, wie sehr mein Körper beschädigt war und blutete, als wir uns liebten. Ich roch ihr Ylang-Ylang-Öl auf meiner Haut. Ylang-Ylang törnt mich so an. Danach bügelte ich weiter die Hemden, die ich für Ostdeutschland einpacken wollte. Es dauerte eine Weile, bis ich das Bügelbrett aufgestellt und mein altmodisches Bügeleisen mit Wasser gefüllt hatte. Es war entweder zu heiß oder zu kalt, doch es lenkte mich ab, wenn ich seine schwere Stahlspitze auf die Ärmel richtete, mich zu den Manschetten vorarbeitete und den Dampf hochsteigen sah. Ich knöpfte die Manschetten auf und wendete sie nach außen, damit ich um die Knöpfe herumbügeln konnte. Es war wichtig, nicht über die Knöpfe hinweg zu bügeln, weil dadurch Abdrücke entstehen. Ich brauchte eine Weile, um alle Knöpfe aufzuknöpfen. Ehrlich gesagt fühlte ich mich angesichts des Autounfalls und der Ablehnung meines allerersten Heiratsantrags, als hätte man mich verprügelt. Das hasste Stalin am meisten – von seinem Vater verprügelt zu werden. Ich hängte die Hemden auf und trat auf meinen Balkon. Eine Schar rußschwarzer, plumper Krähen hüpfte auf dem Rasen der Parliament Hill Fields herum. Eine von ihnen hob plötzlich ab und flog zu einem Vogelbad. Sie hatte etwas im Schnabel und ließ es dann in das Vogelbad fallen. Vielleicht eine Maus, was mich daran erinnerte, dass Stalin seine Tochter Swetlana liebte, wie eine Katze eine Maus liebt. Wie liebte ich Jennifer, und wie liebte sie mich? Ich war mir nicht sicher, dass sie mich überhaupt liebte. Sie war eindeutig die Katze, und ich war die Maus. Das brachte mich auf den Gedanken, dass ich zur Abwechslung versuchen sollte, die Katze zu sein, doch es fühlte sich nicht sehr erregend an.
Bisher hatte ich meine Seite des Vertrags eingehalten – nie in Worten zu beschreiben, wie erstaunlich schön sie war, weder ihr noch anderen gegenüber. Weder die Farbe ihrer Haare, Haut oder Augen noch die Form ihrer Brüste, Lippen oder Brustwarzen, noch die Länge ihrer Schenkel oder die Beschaffenheit ihrer Schamhaare, auch nicht, ob ihre Arme gebräunt waren, nicht ihren Taillenumfang oder ob sie sich unter den Armen rasierte oder die Zehennägel lackierte. Offenbar hatte ich keine neuen Worte, um sie zu beschreiben, aber wenn ich sagen wollte: »Sie ist erstaunlich schön«, dann war das in Ordnung, weil es nichts bedeutete. Weil sie sich immer über meine erhabene Schönheit ausließ, fragte ich mich, ob sie überhaupt etwas bedeutete. Für sie. Durch ihre Fotos gab sie ihr eine Bedeutung, doch sie sagte, die hätten nicht wirklich mich zum Gegenstand, die ganze Komposition sei wichtig und ich sei nur ein Teil davon. Warum hatte sie die Umrisse meiner Lippen auf dem Foto über ihrem Bett mit rotem Filzstift nachgezogen? Ich wusste, wie gern sie mich küsste, weshalb schrieb sie dann KÜSS MICH NICHT? Als glaubte sie, dass Sex mit mir sie verletzlich machen und mir zu viel Macht geben würde. Jennifer wollte mir diese Art Macht nicht geben, deshalb musste ich mich anpassen. Sie war ziemlich interessiert an einem Kommilitonen, der Otto hieß. Er hatte blaue Haare und war so alt wie sie. Selbst wenn sie glaubte, er sei dazu bestimmt, der neue berühmteste Künstler weltweit zu werden, wusste ich, dass die Haarfarbe ihres wahren Geliebten Schwarz war.
4
Ich öffnete den Briefkasten im Hausflur unseres Wohnblocks, weil ich sehen wollte, ob die Abbey-Road-Fotos angekommen waren. Sie würden mein Geschenk an Luna Müller sein, die jüngere Schwester meines Dolmetschers Walter Müller. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss – es fühlte sich etwas locker an, als hätte jemand die Schrauben heraus- und dann hastig wieder festgedreht. Doch als ich mir die Briefkästen der anderen Mieter ansah, entdeckte ich, dass auch sie reparaturbedürftig waren. Bei allen war das Holz zerkratzt. An den meisten Messingschlössern, hergestellt in den 1930er Jahren, fehlten Schrauben. Es war schwieriger als sonst, den Schlüssel ins Loch zu manövrieren. Der Vermieter erhöhte unsere Miete jedes Jahr, tat aber nichts zur Sanierung des Gebäudes, das mehr oder weniger verfiel. Die alte Dame aus dem oberen Stock, Mrs Stechler, kam aus dem Fahrstuhl und humpelte in den Hausflur, ihre behandschuhten Hände umklammerten die stählerne Stange ihres Rollators. Sie schien zu erschrecken, als sie mich auf den Knien vorfand, die Schlösser aller Briefkästen anstarrend. Sie trug einen Pelzmantel und fing an, über ihre Arthritis zu klagen, wie das feuchte Wetter die Entzündung verschlimmere und sie noch steifer mache. »Regen ist eine schlechte Nachricht für meine Knochen«, sagte sie mit ihrer mürrischen, tiefen Stimme. Ich schaute durch die Glastüren des Hausflurs. Die Sonne schien. Das Gras in den Gemeinschaftsgärten war noch gelb von der Hitzewelle in diesem Sommer. Das Herbstlaub war nicht feucht.
»Stimmt etwas nicht, Saul?«
»Alles in Ordnung.«
»Ich wollte mich nach Ihrem Familiennamen erkundigen«, sagte sie.
»Was ist damit?«
»Auf Ihrem Briefkasten steht der Name Saul Adler.«
»Ja.«
»Adler ist ein jüdischer Name.«
»Ja, und?«
Sie wartete darauf, dass ich mehr sagte, und ich sagte mehr.
»Saul ist auch ein jüdischer Name. Einverstanden?«
Ihr Mund stand offen, als brauchte sie ein größeres Loch zum Atmen. Anscheinend war mein Name das Gespenst, das Mrs Stechler heimsuchte.
Ich erhob mich, weil es zu unterwürfig war, auf den Knien mit ihr zu reden. Nach einer Weile fragte ich sie, ob sie mir sagen könne, wo man eine Dose Ananas bekomme.
»Überall. Jedes Geschäft hat eine Dose Ananas. Sogar der Eckladen. Möchten Sie Scheiben oder Stücke? In Sirup oder Saft?«
Sie starrte mich durch ihre dicke Brille an, als wäre ich ein Dieb, der alle Briefkästen in dem Gebäude ausrauben wollte. Ich hatte einen Umschlag in meinem Briefkasten vorgefunden und wollte ihn gern öffnen, sie sollte mich aber nicht dabei beobachten. Sie teilte mir mit, dass sie ein Stück Mohnkuchen in dem neuen polnischen Geschäft kaufen wolle, und einmal unterwegs, müsse sie ein Mittel finden, das den Fleck auf ihrem schildkrötengrünen Sofa entferne. Ich dachte über Schildkröten nach und welche Art von Grün sie für das Polsterei-Geschäft repräsentierten, als sie wieder zur Klage über ihre Gelenkschmerzen und das Wetter ansetzte. Ich konnte mich an kein polnisches Geschäft in der von ihr genannten Straße erinnern. Es gab dort eine Fleischerei und einen Zeitungskiosk und einen Friseur, der hauptsächlich Rentner und Rentnerinnen wie sie bediente, aber nichts, was einem polnischen Geschäft ähnelte, wenn der bengalische Kiosk-Betreiber nicht neuerdings osteuropäische Backwaren verkaufte. Ich war abgelenkt, weil ich nun den Umschlag geöffnet hatte und auf die Schwarz-Weiß-Fotos starrte, es waren drei.
Dort lief ich barfuß auf dem Zebrastreifen, in meinem weißen Anzug mit den Schlaghosen, die Hände in den Taschen des weißen Jacketts. Es war eine Notiz von Jennifer dabei:
Übrigens ist nicht John Lennon barfuß gelaufen. Das war Paul. JL hatte weiße Schuhe an. Ist mir gelungen, Dich wie auf dem Original mitten im Schritt zu erwischen, dank meiner verlässlichen Trittleiter.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich die Schuhe ausgezogen hatte,