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entfernt waren.

      Dann sahen sie sie – jedenfalls die meisten von ihnen: eine kleine Menschenfrau, die mit ausgestreckten Armen und im Wind flatternden Umhang am Rand des Wassers stand.

      »Werft!«, befahl Ataquixt und die Arme schossen nach vorn, sodass die leichten Speere vom Boot aus durch die Luft zischten. Viele rasten dem offensichtlichen, gut erkennbaren Ziel entgegen.

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      »Geh. Sag ihnen, dass sie fliehen müssen«, sagte Aoleyn zu Aydrian.

      »Komm mit!«, bat Aydrian.

      »Ich werde euch Zeit verschaffen.«

      »Du wirst sterben.« Er packte ihren Arm.

      Sie warf ihm einen gefährlich finsteren Blick zu. »Vertrau mir«, verlangte sie. »Geh!«

      Aydrian ließ sie los, nickte respektvoll und lief zurück zum Lager. Dort regten sich die Menschen bereits, was bedeutete, dass einige das Boot ebenfalls entdeckt haben mussten.

      Aoleyn fuhr zum See herum und lauschte auf das Lied ihrer Edelsteine. Sie konnte das Boot nun deutlich erkennen. Es schoss auf das Ufer zu und drehte so rasch bei, dass eine Seite sich neigte. Sie wusste, was passieren würde. Auch ohne die erhobenen Wurfspeere zu sehen.

      Ihre Instinkte flehten sie an, hinter den Felsen in Deckung zu gehen, weil es bereits zu spät war, zu spät, um diese Salve noch aufzuhalten.

      Aber sie hörte das Lied Usgars, ein Lied, dem sie längst vertraute, und so erschuf sie mit dem Mondstein in ihrem Bauchring einen Wall aus Wind. Zwanzig Speere flogen vom Boot aus auf sie zu und zwanzig Speere wurden verlangsamt, abgelenkt und von Aoleyns magischer Sturmböe besiegt.

      Das Boot drehte weiter ab, bis es sich wieder vom Ufer entfernte. Aoleyn stampfte mit dem Fuß auf und ein Blitz schoss hervor, der aber das Boot nicht erreichen konnte, sondern hell aufleuchtend im Wasser verschwand. In diesem Licht konnte sie deutlich die rot-blau gestreiften Gesichter erkennen.

      Sie hörte sie schreien und verstand ihre Worte – vor allem die einer Stimme, die befahl, das Boot zu wenden und zu einem zweiten Angriff, einer zweiten Salve anzusetzen.

      Die den anderen befahl, sie, die Magierin, umzubringen.

      »Ja, kommt«, flüsterte Aoleyn. Sie drehte sich zum Flüchtlingslager um und rief Talmadge und Aydrian zu, die anderen in Sicherheit zu bringen.

      Sie hatte nicht die Absicht, ihnen zu folgen. Noch nicht.

      Sie konzentrierte sich wieder auf das Boot, das den Kreis, den es im Wasser beschrieb, vollendet hatte und dessen Segel sich so plötzlich im Rückenwind blähten, dass es vorwärts zu springen schien wie ein angreifendes Raubtier. Es wurde schneller, fuhr genau auf sie zu, und Aoleyn erkannte, dass es dieses Mal viel näher am Ufer beidrehen würde, so nahe, dass sie die Salve nicht komplett wegwehen können würde.

      Aber sie lief nicht davon.

      Sie hörte das Lied, vertraute auf das Lied und hätten die Feinde auf dem Boot das schiefe Lächeln der kleinen Frau sehen können, hätten sie vielleicht erkannt, dass sie Narren waren.

      In Aoleyns Fußkettchen steckte ein großer blauer Edelstein, den sie schon einmal in einer verzweifelten Lage eingesetzt hatte, und dessen Macht sie schockiert und verängstigt hatte.

      Doch nun hatte sie keine Angst.

      Sie spürte, wie das Lied lauter und mächtiger wurde, wie seine Melodie ihren Körper mit Kraft und Kälte erfüllte.

      Das Boot kam heran.

      Sie wartete darauf, dass sich das Segel drehte.

      Als es so weit war und das Boot auf einmal nach links abdrehte, beschwor Aoleyn die Magie. Doch sie zielte damit nicht auf das Boot, sondern auf das Wasser vor dem Boot, das sie in eine dicke Eisscholle verwandelte.

      Das Boot hatte seine Drehung zur Hälfte vollendet, als es mit voller Geschwindigkeit auf den Eisberg traf. Holz splitterte und das Gefährt kam so ruckartig zum Stehen, dass die meisten an Bord über die Reling geschleudert wurden, wobei einige auf den Eisberg krachten, an ihm herabrutschten und ins Wasser fielen. Denjenigen, denen es irgendwie gelungen war, an Bord zu bleiben, erging es kaum besser, denn der Bug war beim Aufprall zur Hälfte eingedrückt worden, sodass Wasser durch das Leck strömte und sich das kleine Boot zur Seite neigte, bis es vom knirschenden Eis aufgehalten wurde.

      Aoleyn hörte gleich mehrere Lieder, verwob sie miteinander und ließ sie hervorbrechen, so wie sie es bei Tay Aillig auf der Felszunge getan hatte. Über dem halb gekenterten Boot, über dem Eis, über den im Wasser strampelnden Feinden verbanden sich die Magien zu einem Sturm aus Blitzen und heftigem Eisregen.

      Aoleyn trat erneut mit dem Fuß auf und ließ einen Blitz aus diesem Sturm herabfahren. Er schoss ins Wasser, wo er sich einem Feuerball gleich in alle Richtungen ausbreitete. Elektrizität fuhr in die im Wasser treibenden Xoconai und raubte ihnen die Orientierung, sodass sie panisch um sich schlugen und ertranken.

      Die junge Hexe betrachtete die Szene mit kaltem Blick und akzeptierte die schreckliche Realität der Dinge, die zu tun sie gezwungen war. Sie brachte einen zweiten Blitz hervor, drehte sich auf dem Absatz um und lief los.

      Ein dritter Blitz, dann rannte sie auch schon. Sie beschwor einen vierten Blitz aus größerer Entfernung, als sie die Seebewohner, die durch die Wüste ins Landesinnere flohen, bereits vor sich sehen konnte.

      Sie beschloss, zwischen ihnen und den Feinden zu bleiben, und alle buntgesichtigen Eroberer, die ans Ufer gelangten und sie verfolgten, noch vor Morgengrauen zu töten. Aoleyn flüsterte die Litanei, die sie davor bewahren sollte, vor einem solchen Massaker zurückzuschrecken.

      »Dann ist es eben so.«

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      Er entkam dem Sturm nur dank seines Cuetzpali-Reittiers, denn die Echse war ein guter Schwimmer und widerstand der Elektrizität der Blitze so weit, dass sie ihren Kurs halten konnte.

      Ataquixt hörte das Schreien und Kreischen seiner Besatzung, sah sie bei jedem Blitz zucken, sah andere, die einfach nur mit dem Gesicht nach unten im aufgewühlten Wasser trieben. Das Boot lag nun komplett auf der Seite und war größtenteils gekentert und nur wenigen gelang es, sich in dem brodelnden Wasser daran festzuklammern.

      Die Pause nach jedem Herzschlag fühlte sich für Ataquixt wie eine qualvolle Stunde an und er wusste, dass sie für jene, die in dem magischen Sturm gefangen waren, noch länger dauerte.

      Schließlich brach die wirbelnde schwarze Wolke auseinander und Ataquixt lenkte sein Cuetzpali-Reittier zurück zum Boot. Dort fing er an, die Überlebenden ans nahe gelegene Ufer zu ziehen. Danach holte er die Leichen, ein halbes Dutzend Tote.

      »Wir werden sie finden und töten«, versprach ein geretteter Mundunugu mit klappernden Zähnen. Ataquixt wusste nicht, ob das an der Kälte, seinen Wunden oder den Nachwirkungen der Blitze lag.

      »Ihr werdet unsere gefallenen Brüder und Schwestern zurück nach Westen bringen«, befahl Ataquixt dem Rest seiner Leute. »Ihr werdet sie Pixquicauh als Helden präsentieren, damit er sie Scathmizzane opfern kann, und ihr werdet Tuolonatl von der Schlacht und der menschlichen Magierin berichten.«

      »Die Cochcal wird nicht erfreut sein«, warnte eine Frau.

      »Die Große Tuolonatl versteht den Krieg«, versicherte ihr Ataquixt. »Sie wird unsere Schlacht als großen Erfolg betrachten.«

      Ihm fiel auf, dass viele von ihnen skeptische Blicke wechselten.

      »Wir haben heute eine Menge über unseren Feind erfahren«, erklärte er. »Als wir über den Tzatzini kamen, haben wir sie so schnell abgeschlachtet, dass sie uns ihre wahren Fähigkeiten nicht offenbaren konnten.« Er warf einen Blick auf den See, zu dem Boot, das seitlich im Wasser trieb. Das Eis war verschwunden.

      »Aber

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