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unten erwartete, reichte nicht aus, um ihr das Betreten des Abgrunds zu erleichtern, denn dies war tatsächlich der Ort, an dem die Usgar ihre Opfer darbrachten.

      Unter ihnen war auch Aoleyn gewesen.

      Sie näherte sich der Stelle vorsichtig von oben und nutzte dabei jede Deckung, die sie finden konnte. Und das war auch gut so, merkte sie schlagartig, denn an diesem Tag hielten sich überraschend viele Eroberer hier oben auf. Einige bauten Gebilde, die sie nicht einordnen konnte, andere stellten überall goldene Ornamente auf. Aoleyn fiel auf, dass alle, Männer und Frauen, diejenigen, die ihr wie Krieger erschienen, und die, die wohl zum einfachen Volk gehörten, diese erstaunlich bunten Gesichter besaßen, mit der roten Nase und den blauen Linien. Bei einigen waren die Farben kräftiger als bei anderen, aber jedes Gesicht wirkte bemerkenswert einzigartig.

      Zwar schienen sie den Abgrund nicht zu bewachen, aber dort hinzukommen, würde nicht einfach sein.

      Aoleyn fragte sich, ob sie vielleicht lieber in der Nacht zurückkehren sollte.

      Nein. Sie schüttelte entschlossen den Kopf. Sie hatte den Bau der dämonischen Fossa betreten. Sie hatte sich dem Zorn von Mairen und dem Zirkel gestellt und sie hinweggefegt. Sie hatte sich auf einen Kampf mit Tay Aillig eingelassen und er war nun tot, während sie selbst unverletzt geblieben war.

      Erneut griff sie nach ihrem Mondstein und schöpfte dessen Kraft vollständig aus. Sie beschwor das Graphitstück in ihrem Fußkettchen und warf dessen Magie zu der des Mondsteins, wo sie kochte und umherwirbelte. Eine Gewitterwolke bildete sich, die Aoleyn in Richtung Craos’a’diad lenkte.

      Die Xoconai sahen gleichzeitig auf, offensichtlich überrascht über den plötzlich heranziehenden Sturm, obwohl solche Ereignisse in den Bergen natürlich nicht ungewöhnlich waren.

      Aoleyn brachte ihren Sturm dazu, Regen auf die Xoconai prasseln zu lassen. Als sie Blitze hinzufügte, suchten einige Xoconai Schutz, während andere versuchten, die Gegenstände, die sie auf das Plateau gebracht hatten, in Sicherheit zu bringen.

      Aoleyn lächelte über ihren klugen Einfall, griff nach ihrem Diamanten und noch einmal nach dem Mondstein. Sie prägte sich den Weg ein und erschuf eine Kugel aus Dunkelheit um sich herum, die ihre Gestalt verbarg.

      Sie ließ einen weiteren Blitz aus ihrer Gewitterwolke fahren, der in das Gestein einschlug, dann stieg sie rasch empor und ließ einen dritten Blitz folgen, der die Xoconai ablenkte, während sie in den Abgrund eintauchte und unbemerkt in seiner dunklen Tiefe verschwand.

      Dort angekommen, verkehrte sie ihren Dunkelheitszauber ins Gegenteil, sodass sie nun von etwas Licht umgeben war. Die Grube war sehr tief, aber in der Felswand gab es Höhlen, die sich auf verschiedenen Ebenen durchs Gestein zogen. Aoleyn suchte sich die höchste davon aus. In den Höhlen dort wuchsen riesige Kristalle aus den Wänden. Sie war bei ihrem ersten Besuch schon einmal hier entlanggegangen, während ihrer Prüfung, die darüber hatte entscheiden sollen, ob sie sich dem heiligen Zirkel der dreizehn Hexen, die für den Gott Usgar tanzten, anschließen durfte.

      In diesen Höhlen hatte sie ihren magischen Schmuck aus den Steinen angefertigt, die man in den Kristallen finden konnte.

      Nun brauchte sie mehr.

      Sie ließ die Kräfte, die in ihren eigenen Steinen wohnten, ruhen, bis auf die in einem roten Granat, der an ihrem rechten Ohrring hing. Mit seiner Hilfe konzentrierte sie sich auf die Schwingungen der Magie, von der sie umgeben war, und zündete diamantgefleckte Kristalle wie Fackeln im Vorbeigehen an. Mit der Kraft des Granats, einem Stein, der ihr Magie in der Nähe offenbarte, lauschte Aoleyn auf Veränderungen in der Musik der Steinvibrationen. Sie suchte nach Kräften, die sich von denen unterschieden, die sie bisher gesammelt hatte.

      Das Höhlensystem war lang und verwinkelt und die Arbeit kostete viel Zeit, aber jedes Mal, wenn Aoleyn aufgeben wollte, stieß sie auf einen Kristall, der von einer Energie erfüllt war, die sie noch nie für ihre Zwecke benutzt hatte. So fiel ihr einer auf, der von grünen und roten Streifen durchzogen war, ein Blutstein. Als sie sein Lied beschwor, spürte sie, wie ihre Muskeln sich anspannten. Einen Moment lang befürchtete Aoleyn, sie würde sich erneut in einen Jaguar verwandeln, aber nein, sie wurde einfach nur stärker – viel stärker.

      Sie suchte weiter.

      Außerhalb der Höhlen wich der Tag allmählich der Nacht, aber Aoleyn suchte weiter. Als sie müde und hungrig wurde, kehrte sie zum Abgrund zurück. Sie flog jedoch nicht empor. Stattdessen wandte sie sich den unteren Tunneln zu und einem Raum, den sie wochenlang bewohnt hatte, während sie sich von ihrer versuchten Opferung erholt hatte. Sie betrat eine warme Kammer, die sich in einer tiefen Höhle befand. Hier befand sich ein kleiner Wasserfall, der sich rauschend in einen Teich voller Fische ergoss. Magische Energie durchzog die Wände der Kammer. Aoleyn badete und aß und schlief, aber nur kurz. Noch vor Sonnenaufgang nahm sie ihre Arbeit wieder auf.

      Der zweite Tag ging vorbei und Aoleyn suchte weiter, nun jedoch mit einer Handvoll Kristalle, in denen unterschiedliche Edelsteine steckten und die sie in ihrer kleinen Tasche verstaut hatte.

      Sie befürchtete zwar, dass es ihr schwerfallen würde, ihre flüchtenden Begleiter wiederzufinden, hätte aber ihre Suche trotzdem fortgesetzt, weil es sicherlich noch weitere Schätze zu finden gab, wenn sie nicht auf einmal ein Lied gehört hätte, eine Melodie, die sich von der, die sie kannte, unterschied, aber von Stimmen gesungen wurde, die ihr bekannt vorkamen.

      Der Zirkel sang in dieser Nacht lauter, intensiver und kraftvoller.

      Neugierig kehrte Aoleyn in die Teichkammer zurück, denn von hier unten aus, das wusste sie, ließ sich der Zirkel in Dail Usgar gut ausspionieren. Die mächtige Hexe beschwor die Kraft des Wedsteins, ließ ihre sterbliche Hülle neben dem unterirdischen Teich liegen und flog zur Decke hinauf. Sie entdeckte eine magische Kristallader nahe dem Wasserfall, folgte ihr an den höheren Höhlen vorbei zur Oberfläche und fuhr in den Gottkristall, den schrägen Obelisken, den die Usgar als ihren Gott bezeichneten, der in der Mitte der Lichtung stand, auf der die Hexen tanzten und sangen.

      Und sie tanzten tatsächlich, obwohl sie nur zu zwölft waren, wie Aoleyn auffiel, nachdem sie eine Weile damit verbracht hatte, die in einem Kreis um sie herumwirbelnden Körper zu zählen. Sie konnte durch den Kristall nach draußen sehen, allerdings nicht sonderlich gut, deshalb wusste sie nicht, wer fehlte. Allerdings nicht Mairen, da war sie sich sicher, denn die Usgar-righinn, die Anführerin des Zirkels, stand an ihrer üblichen Stelle neben dem Gottkristall und leitete das Lied mit lauter, klarer Stimme.

      Kurz darauf überkam Aoleyn ein Frösteln zusammen mit einem tief greifenden Unwohlsein.

      Sie hatte sich schon einmal so gefühlt, in der Nähe des Abgrunds, wo die Geister der Toten festgehalten wurden. Da sie sich nicht in ihrem Körper befand, konnte sie den Atem nicht anhalten, aber sie hielt stattdessen mit ihren Gedanken inne, denn ihr Geist war nervös und spürte eine Gefahr.

      Ein Xoconai betrat das Plateau. Aber nicht nur irgendein Xoconai. Nein, es war der Riese, der so groß wie die Bäume, schlank und schön war.

      Und schrecklich. Aoleyn spürte seine Macht.

      Die unangenehme Kälte um sie herum nahm zu und sie erkannte zu ihrem Entsetzen, dass sie von den Seelen stammten, die in diesem Augenblick durch den Kristall glitten und sich wie die Saat eines Mannes auf der heiligen Lichtung ausbreiteten. Dort wuchsen sie und nahmen eine geisterhafte Gestalt an, wie aus Nebel geformte Männer und Frauen, deren verzerrte Gesichter ihren Qualen Ausdruck verliehen.

      Auch sie fingen in unmittelbarer Nähe des Kristalls an zu tanzen und Aoleyn betrachtete sie, ihre Gesichter – und erkannte sie wieder! Wenigstens einige, denn es waren Usgar, Mitglieder ihres eigenen Stammes.

      Sie sah Tay Aillig!

      Und sie sah die Geister von Xoconai, so viele von ihnen, ebenso wie die von unzähligen Seebewohnern.

      Sie tanzten und wirbelten umher, bis sie den großen Xoconai-Gott erreichten. Dann verblichen sie, ihre Essenz schwand und wurde anscheinend von dem riesigen Wesen vor ihnen absorbiert.

      Nein, nicht

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