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Dominant in Neumanns Worten ist erstens ein selbstquälerisches, vor allem aber ein überzogenes Schuldgefühl, das sein tatsächliches Verhalten in den Jahren 1932/3, seinen Mut und seine offensichtliche Risikobereitschaft seltsam herunterspielt oder sogar unterschlägt – die Quittung war doch Anfang Mai 1933 auf dem Fuß gefolgt, als Neumanns Büro von den SA-Schergen besetzt wurde und er mit Sicherheit verhaftet worden wäre, hätte er sich nicht bereits auf der Flucht befunden. Das führt zweitens zu der Vermutung, dass hinter dem Objekt dieser Schuldgefühle – der angeblichen politischen Feigheit, die als moralisches Versagen interpretiert wird – ein ganz anderes, allerdings hochtabuisiertes Objekt steht, aus dem sich das (übertriebene) Schuldgefühl speist. Damit stößt man drittens auf jene psychologische Grundkonstante, die für die erste Generation der Emigranten verallgemeinert werden kann, aber bei den jüdischen Emigranten eine ganz besondere Schärfe aufweisen musste. Gemeint ist der sog. Überlebenskomplex, d.h. das quälende Schuldgefühl derer, die dem Holocaust entronnen sind. Daraus schließlich könnte viertens verständlich werden, warum Neumann die ihm eigentlich fremde Denkfigur der kollektiven Schuld überhaupt für sich reklamieren kann: Die Kollektivität, die er „eigentlich“ meinte und die er gleichzeitig vor sich selber versteckte, war die der jüdischen Opfergemeinschaft.

      Transponiert man diese psychologische Spekulation auf die objektivere Ebene der Wissenschaftsgeschichte, dann stellen sich nicht weniger dringliche Fragen, sie betreffen die Geistesverfassung der westdeutschen Nachkriegsepoche und lassen sich für Neumanns Stellung zu ihr vielleicht so ausbuchstabieren: Warum hat er gerade seinen „Behemoth“, dieses in den USA außerordentlich geschätzte Standardwerk, über den Nationalsozialismus so seltsam unter Verschluss gehalten? Warum hat er, wenn er doch so maßgeblichen Einfluss auf die Gründung der Politikwissenschaft genommen hat und dafür über große Finanzmittel verfügte, nicht für seine rasche Übersetzung ins Deutsche gesorgt? Warum hat er seine ehemaligen Landsleute nicht direkt mit seinem wissenschaftlichen Vermächtnis konfrontiert, was bedeutet hätte, vor allem die Eliten des neuen Deutschland zur Auseinandersetzung mit ihren erheblichen NS-Kontinuitäten zu zwingen? Bekanntlich hat es bis zum Jahr 1977 gedauert, bis der „Behemoth“ in der äußerst verdienstvollen Übersetzung von Gert Schäfer und Hedda Wagner herauskam, während z.B. Hannah Arendts „The Origins of Totalitarianism“ bereits 1955 auf Deutsch vorlag.52

      Da man schwerlich annehmen kann, dass Neumann nicht wusste, welch hochexplosives Gemisch sowohl für die deutsche Öffentlichkeit als auch für die wissenschaftliche Forschung in seiner Nationalsozialismus-Analyse steckte, bieten sich als Antwort auf diese Fragen vor allem zwei Überlegungen an: Vergleichsweise einfach stellt sich die Vermutung dar, dass Neumann, wie u.a. dem kurzen Essay über „Ökonomie und Politik im 20. Jahrhundert“53 zu entnehmen ist, mit der marxistischen Grundierung des „Behemoth“ nicht mehr umstandslos übereinstimmte, und vielleicht wollte er dem in der Nachkriegszeit grassierenden Antikommunismus auch deswegen ausweichen, weil er die in ihm steckenden antisemitischen Reste spürte. In den dunklen Kern einer verwickelten Wirkungsgeschichte aber stößt man erst durch, wenn man sich – Marxismus hin oder her – die unbeirrte Strukturanalyse vor Augen hält, die mit ihr zusammenhängende Polykratie-Theorie von den vier Säulen des Nationalsozialismus und die höchst provozierende These, dass die Verbrechen der totalitären NS-Diktatur das Resultat eines Prozesses waren, an dem die ganze deutsche Gesellschaft mitgewirkt hat.

      Nimmt man also umgekehrt an, dass Neumann nur zu genau wusste, welche Hypothek darin für die Zukunft der neuen deutschen Demokratie steckte, so kann man in seiner auffällig defensiven Haltung bezüglich der deutschen Publikation des „Behemoth“ ein tiefes Misstrauen gegen seine ehemaligen Landsleute, aber auch eine ebenso tiefe Resignation gegenüber seinem eigenen Werk und Wirken sehen. Dieser Gedanke gewinnt an Schärfe, wenn man sich fragt, ob Neumanns Zurückhaltung gegenüber der Übersetzung des „Behemoth“ ins Deutsche, d.h. in die Sprache der Täter, vielleicht mit dem Gefühl zu tun gehabt haben könnte, dass er dem dunkelsten Kapitel der Nazi-Diktatur, dem (erst später so genannten) „Holocaust“ mit seiner Analyse letztlich nicht gerecht geworden ist. Dieses Gefühl könnte umso bedrängender geworden sein, als Neumann die Vorstellung einer historischen Kollektivschuld nach dem Krieg offenbar nicht mehr fremd war, die aber natürlich für ihn selber, wie vorne vermutet, nur als Identifikation mit dem jüdischen Opferkollektiv Sinn gemacht haben kann.

      Wo und wie also taucht der Holocaust in Franz Neumanns „Behemoth“ auf? Dass er nicht sofort als Genozid, d.h. als organisierter Massenmord an den Juden, in Erscheinung tritt, hängt natürlich mit dem frühen Erscheinungsdatum des Buches zusammen: Der Erarbeitungszeitraum der ersten Auflage liegt vor den maßgeblichen Entscheidungen des NS-Regimes im Laufe des Jahres 1941. Dennoch gibt es im (ersten) Teil über das politische System des Nationalsozialismus ein eigenes und ausführliches Kapitel54 über die Vorgeschichte des Antisemitismus und seinen hohen Stellenwert im deutschen 19. Jahrhundert, auch erkennt Neumann zweifelsfrei, dass der Antisemitismus zentraler Bestandteil der NS-Ideologie wurde und dass er nach 1933 als direktes Instrument für die schrittweise Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung gedient hat. Im (zweiten) Ökonomieteil wird dann die sog. „Arisierung“ der jüdischen Betriebe, sowohl im Reichsgebiet wie später in den eroberten Gebieten, dargestellt und mit großer Bitterkeit als Teil der staatlich gelenkten Monopolbildung verurteilt.55 Dominant für all diese Passagen ist jedoch eine stark funktionalistische Auffassung, die sich nicht damit auseinandersetzt, ob sich die antijüdische Politik rein instrumentell überhaupt verstehen lasse. Folglich taucht die Judenverfolgung auch dort nicht mehr eigens auf, wo – im dritten Teil des „Behemoth“ – die Arbeiterbewegung als der prädestinierte „Feind“ des Nationalsozialismus dargestellt wird.

      Dieses Bild verändert sich auf dem Weg zur zweiten Auflage des „Behemoth“, wobei man vorausschicken muss, dass Neumann mittlerweile für den amerikanischen Geheimdienst tätig geworden war und offenbar nur mehr die Zeit fand, einen ergänzenden, aber immerhin 100-seitigen Anhang zu schreiben. Die Veränderungen sind gravierend und halten doch am genannten funktionalistischen Bias fest: Während 1942 als der eigentliche Gegner des Nationalsozialismus die politische Arbeiterbewegung erscheint, die zwar zerschlagen und atomisiert, aber dennoch noch nicht völlig demoralisiert ist, sieht Neumann 1944, zumal nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler, die Chancen für einen erfolgreichen Widerstand so gut wie verschwunden. Umso mehr setzt er jetzt auf den militärischen Angriff von außen, dessen Erfolg für ihn u.a. davon abhängen wird, dass die Westmächte und vor allem die USA sich nicht nur als demokratische Alternative darstellen, sondern auch die Voraussetzungen für eine sozial gerechtere Gesellschaftsordnung schaffen. Überlegungen, ob die militärischen Operationen auch dazu dienen könnten oder sollten, die in Osteuropa bereits voll in Gang befindliche und den alliierten Entscheidungsträgern durchaus bekannte Vernichtungsmaschinerie gegen die Juden zu stoppen, werden dabei nicht angestellt.

      Was sich im ausführlichen Anhang von 1944 jedoch findet, ist eine bemerkenswerte Verschärfung des Blickes, die keinen Zweifel mehr daran lässt, dass die physische Ausrottung der Juden integraler Bestandteil des imperialistischen Expansionskrieges im Osten ist, ja dass die Vernichtungswut regelmäßig mit besonderer Schärfe gegen die jeweiligen jüdischen Bevölkerungsteile gerichtet ist. Neumann übernimmt hier, wie bereits erwähnt, aus seinem eigenen OSS-Papier vom Mai 1943 wortwörtlich die „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“, bezeichnet den seit 1942 vor allem im Osten zentrierten Massenmord als „planvolle Ausrottung der Juden“, aber kehrt dann doch wieder zur funktionalistischen Interpretation zurück: Der Holocaust wird in den größeren Zusammenhang eingebettet und ist für ihn das „Testfeld universaler terroristischer Methoden, die sich gegen alle jene Gruppen und Institutionen richten, die sich dem Nazisystem nicht voll und ganz unterworfen haben“.56

      Es ist eine der schwierigen, aber auch interessanten Interpretationsfragen, ob mit dieser Zuspitzung der ganzen Wahrheit des Holocaust tatsächlich ins Auge gesehen oder ob ihr letztlich doch wieder funktionalistisch, d.h. rationalisierend ausgewichen wurde. Eine Überlegung könnte z.B. so lauten: Bezieht man die Schlusspointe, mit der Neumanns Anhang von 1944 endet, nämlich dass die Wirtschafts- und Parteieliten immer mehr miteinander verschmelzen, zurück auf die vorher formulierte These, dass die wichtigste Funktion des offiziellen Antisemitismus darin bestehe, das Täterkollektiv im organisierten Verbrechen zusammenzuschweißen57,

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