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      Täg­lich nahm er sie in den Arm und küss­te sie, des Mor­gens und des Abends – aber was sie ihr Le­ben lang emp­fun­den und durch­ge­run­gen, da­von ahn­te er nichts. Wie zart und ge­übt, wie gü­tig und ge­schickt hät­te die Hand sein müs­sen, der es ge­lun­gen wäre, die dunklen In­stink­te, die gäh­ren­den Ge­wal­ten, die in ver­schwie­ge­nem Kampf sie zer­wühl­ten, bis in die Form des Wor­tes her­aus­zu­lo­cken.

      X.

      On­kel Gu­stav war ge­stor­ben. Mama hat­te ihn heu­te Mor­gen tot im Bett ge­fun­den – fast in der­sel­ben Stel­lung, in der sie ihn am Abend zum Schlaf zu­recht­ge­legt hat­te. Er war sehr lei­dend ge­we­sen in der letz­ten Zeit, aber der Arzt ver­si­cher­te stets, er kön­ne bei der gu­ten Pfle­ge noch Mo­na­te, ja noch Jah­re le­ben. Mama und Aga­the sa­ßen still zu­sam­men und floch­ten an ei­ner Guir­lan­de. Frau Heid­ling reich­te ih­rer Toch­ter klei­ne Sträu­ße von Grün und Blu­men, aber sie mach­te es oft ganz ver­kehrt. Bei­de sa­hen müde und ab­ge­zehrt aus – be­son­ders Mama konn­te sich kaum noch auf­recht hal­ten. Ihre Kräf­te wa­ren durch die An­for­de­run­gen des Kran­ken bis auf den letz­ten Rest ver­zehrt.

      Was sie und Aga­the sich auch aus­dach­ten an gu­ten stär­ken­den Bis­sen – nichts hat­te ihm ge­schmeckt. Ver­drieß­lich schob er den Tel­ler zu­rück und er­zähl­te von die­sem oder je­nem Ho­tel­koch, der ge­ra­de das eine Ge­richt so wun­der­bar schön zu be­rei­ten ver­stand. Be­stän­dig woll­te er un­ter­hal­ten sein und un­ter­brach doch meis­tens die Be­mü­hun­gen sei­ner Nich­te mit der trüb­se­li­gen Be­mer­kung: »Ach, Kind – das in­ter­es­siert mich ja gar nicht!« Für nichts auf der Welt emp­fand er Teil­nah­me. Es war fast noch ein Glück zu nen­nen, dass die Pfle­ge sei­nes Kör­pers vie­le Stun­den des Ta­ges aus­füll­te, denn sau­ber und ap­pe­tit­lich blieb »die Kirsch­blü­te«, wie On­kel Gu­stav bei Aga­thes Freun­din­nen ge­nannt wur­de – bis zu­letzt. Frei­lich sank die arme Mama, die dem al­ten, schwa­chen Herrn al­lein bei der Toi­let­te hel­fen durf­te, im­mer halb ohn­mäch­tig vor Er­mat­tung hin­ter­her aufs Sofa.

      Nun war der große Lehn­stuhl am Fens­ter, in dem On­kel Gu­stav, mit ei­nem lan­gen, grau­en Schlaf­rock be­klei­det, ein hal­b­es Jahr hin­durch ge­ses­sen, leer ge­wor­den. Auf dem Tisch lag sei­ne hüb­sche blon­de Per­rücke, ohne die er sich der Nich­te nie­mals ge­zeigt hat­te.

      Die An­ge­hö­ri­gen spra­chen weh­mü­tig über das Le­ben, das so still zer­ron­nen. Frau Heid­ling er­zähl­te von der strah­len­den Ju­gend­blü­te ih­res Schwa­gers. Zu der Zeit habe man ge­meint, es kön­ne ihm an Er­folg nicht feh­len. Je­der habe ihm eine rei­che Hei­rat pro­phe­zeit.

      Der Re­gie­rungs­rat ging ernst im Zim­mer auf und nie­der.

      »Das war sein Un­glück«, be­merk­te er, ste­hen blei­bend. »Gu­stav stell­te sei­ne Hoff­nung und sei­ne Plä­ne auf die Frau­en, statt auf sich selbst. Da­bei konn­te na­tür­lich nur ein ver­fehl­tes, tö­rich­tes Le­ben her­aus­kom­men. Man soll von den To­ten ja nichts Übles re­den – aber was hat die mensch­li­che Ge­sell­schaft, was er selbst von sei­ner Exis­tenz ge­habt? – Kei­ne Pf­lich­ten – kein Be­ruf – kein Stre­ben nach ei­ge­ner Ver­voll­komm­nung … Nur im­mer die Frau­en – die Frau­en! Schließ­lich ha­ben die Frau­en ihn auch nur ge­narrt!«

      Der Re­gie­rungs­rat schwieg – vor Aga­the durf­te man den fer­ne­ren Ge­dan­ken­gang nicht gut laut wer­den las­sen.

      Aga­the nahm ihre Guir­lan­de und trug sie hin­über in das Ster­be­zim­mer, wo der gute On­kel im Sar­ge lag. Mit lei­sen, vor­sich­ti­gen Be­we­gun­gen schlang sie das Grün um sein wei­ßes Kis­sen. Wie er zu­sam­men­ge­fal­len war, nun man ihm auch die falschen Zäh­ne her­aus­ge­nom­men hat­te. Ein sehr al­ter Mann – und doch hat­te er noch nicht die Sech­zig er­reicht.

      Nie­mand gräm­te sich über sei­nen Tod – auf der wei­ten Welt nie­mand – die Frau­en hat­ten ihn nur ge­narrt.

      Wer wird sich ein­mal um sie grä­men? Nie­mand – auf der wei­ten Welt nie­mand. Die Lie­be hat­te sie auch nur ge­narrt.

      *

      Bei On­kel Gu­stavs Be­gräb­nis hol­te Mama sich eine Er­käl­tung, und nun brach sie vollends zu­sam­men.

      Das war eine an­de­re Pfle­ge, als die von On­kel Gu­stav. Schlaflo­se Näch­te – wo­chen­lang in tät­li­cher Auf­re­gung, ein zit­tern­des Ban­gen und Er­war­ten … O Gott – o mein Gott – muss­te sie von hin­nen?

      Aga­the ver­zwei­fel­te fast bei der Vor­stel­lung.

      Nein – dann war das Le­ben län­ger nicht zu er­tra­gen – dann mach­te auch sie ein Ende! Si­cher­lich! Papa konn­te zu Eu­ge­nie und Wal­ter ge­hen.

      »O Herr­gott – o barm­her­zi­ger Hei­land – stra­fe mich nicht um mei­nes Un­glau­bens wil­len! Lass mir doch mein lie­bes Müt­ter­chen noch! Ich habe ja wei­ter nichts – wei­ter nichts!«

      Sie woll­te auch, gar kein Ver­ständ­nis, kei­ne geis­ti­ge Ge­mein­schaft – nur das biss­chen Lie­be und Zärt­lich­keit nicht ver­lie­ren.

      Der glei­che Kampf, Tag und Nacht Aga­the war es oft, als rin­ge sie Kör­per an Kör­per mit dem Tode und als müs­se sie sie­gen, wenn sie alle Kräf­te bis aufs äu­ßers­te an­spann­te – kei­ne Se­kun­de nachließ – im­mer­fort auf der Wacht blieb …

      »Wie Aga­the das aus­hält, ist mir un­be­greif­lich«, sag­te Eu­ge­nie. »Ich hät­te dem Mäd­chen so viel Stär­ke gar nicht zu­ge­traut.«

      »In der Not sieht man erst, was in dem Men­schen steckt«, be­merk­te Wal­ter ach­tungs­voll.

      Sie soll­te eine Dia­ko­nis­sin zur Hil­fe neh­men.

      Ja – schon gut! Aber was wuss­te die Kran­ken­schwes­ter von dem heim­li­chen Kampf? Wür­de sie mit­ten in der To­des­angst sich das Hirn zer­mar­tern, wel­che Lis­ten nun an­ge­wen­det wer­den muss­ten, um das Furcht­ba­re zu ver­trei­ben, das da un­sicht­bar und war­tend im Zim­mer stand – dicht ne­ben Aga­the – sie fühl­te es – sie roch es – sie spür­te sei­ne Ge­gen­wart un­greif­bar in ih­rer Nähe – ent­setz­te sich mit kal­ten Schau­ern, die durchs in­ners­te Mark dran­gen … Und doch fand sie da­bei ein lie­bes und trös­ten­des Wort für die Kran­ke.

      Nein – das wür­de die frem­de Pfle­ge­rin nicht tun – das konn­te sie ein­fach nicht. Sie wuss­te ja doch nicht, was da­von ab­hing, dass die alte, müde, trau­ri­ge Frau nicht starb! Und dar­um half ihre Ge­gen­wart Aga­the auch nichts. Al­lein muss­te es durch­ge­schafft wer­den.

      In der letz­ten Zeit be­te­te Aga­the nicht mehr. Ihr Herz war ge­fühl­los ge­wor­den, wie in al­len Kri­sen ih­res Le­bens, sie glaub­te auch nicht, dass sie ihre Mut­ter wie­der­se­hen wer­de. Sie ver­moch­te sich das ge­dul­di­ge Ant­litz, den al­ten, schmer­zens­vol­len Leib, wel­chen sie mit tau­send Zärt­lich­kei­ten pfleg­te, nicht in ver­klär­ter Ge­stalt zu den­ken. Das wür­de ja doch nicht ihre Mut­ter mehr sein.

      Die Kran­ke sprach oft vom Him­mel und von ih­ren ge­stor­be­nen Kin­der­chen, die sie dort er­war­te­ten. Dann nah­men ihre Au­gen einen so sehn­süch­ti­gen Aus­druck an, dass man ah­nen konn­te, wie viel von ih­rem Her­zens­le­ben die Frau mit ih­nen ins Grab ge­legt hat­te. Sie war mit dem le­ben­den Sohn und der Toch­ter nicht ge­wach­sen – sie war im­mer die Mut­ter

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