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Читать онлайн.An der Datenbasis der Geschichte scheint nichts hieb- und stichfest – gehen wir den Herren Illig und Niemitz auf den Leim, dann nicht einmal die Korrektheit simpelster Jahreszahlen. Wann beginnt das Mittelalter – im Jahr 600 oder 900? Wann beginnt der Tag – wirklich in der Mitte der Nacht, in Stockfinsternis um null Uhr? Dann aber immer nur in einer einzigen der 37 Zeitzonen, die den Planeten umfassen. Oder fängt er, wie der Islam lehrt, mit dem Sonnenuntergang an? So sieht es auch die jüdische Bibel, wenn sie berichtet, wie in Gottes Schöpfungswerk „aus Abend und Morgen der erste Tag“ und alle folgenden aufstiegen. Für uns Dutzendgesichter geht er so richtig erst dann los, wenn wir, mal früher, mal später, am Morgen aus dem Bett finden. Unsere Sprache bekräftigt uns in dieser Empfindung: Das Wort Tagesanbruch bezeichnet, nach der Nacht, das Morgengrauen.
Und wann beginnt die Woche? Am Montag? So halten wir es für selbstverständlich; 1978 legten das die Vereinten Nationen international fest, und die ISO-Norm 8601 standardisiert es. Die Bewohner mancher arabischer Länder halten indes den Samstag für den Start in die Woche. Den Sonntag sieht die jüdische und christliche Tradition dafür vor. Auch hierzulande regelte ein Normenwerk im Jahr 1943, dass eine Woche von Sonntag bis Samstag dauere. Aber selbst damals genossen die Deutschen ihr Wochenende an Samstag und Sonntag. Wann beginnt das Jahr? Nach wie vor halten wir uns an das Dekret von Papst Innozenz XII., der 1691 den 1. Januar festlegte. Indes galt den Römern der Antike, die lange nur zehn Monate kannten, ehedem der 1. März als Neujahr, weshalb unser neunter Monat September, „der siebte“, und unser zehnter Oktober, „der achte“, heißt, unser elfter Monat November, ursprünglich „der neunte“, und unser zwölfter Dezember, „Zehnter“; 153 vor Christus legten sie das Datum gleichfalls auf den 1. Januar. Den griechischen Nachbarn war ein Termin im Sommer lieber. Die frühen Christen in der Metropole Rom feierten am 6. Januar. Auf den 22. September datierten die französischen Revolutionäre den Anfang ihres Jahres, auf jenen Tag, an dem sie 1792 die Republik ausgerufen hatten. Weil die orthodoxen Christen sich nach wie vor am Julianischen Kalender orientieren, fällt ihr Neujahr auf den 14. Januar unseres gregorianischen Kalenders. Für die Chinesen wandert der Jahresanfang zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar, je nachdem, wann sich der Mond als Neumond unsichtbar macht. Hauptsache, das Jahr geht los, egal wann?
Aber Zeit geht nicht los. Sie geht weiter. Unsere Einteilungen, Kategorisierungen, Benennungen sind nichts als Gehhilfen, künstliche Gliedmaßen. Sie dienen uns, das unaufhaltsame, unumkehrbare Kontinuum jener ungreifbaren Immaterialität, die wir Zeit nennen, mit Gedanken wie mit Händen zu fassen und organisatorisch in den Griff zu bekommen. Die Zeit selbst nehmen wir nicht wahr; wir stellen allenfalls Veränderungen fest, die sich in ihr, dem formalen Rahmen, ergeben. Und sich ergeben haben: Was vergangen ist, ändert sich nicht mehr.
Als einzig Unveränderbares im gesamten Kosmos hat Albert Einstein die Geschwindigkeit des Lichts ermittelt, das mit konstantem Tempo durch die Luftleere des Weltalls saust und dabei für 299 792,458 Kilometer eine Sekunde benötigt. Hier tritt uns Zeit als objektive Größe entgegen. Ebenso abgelöst von innermenschlichen Belangen können wir den Weg messen, den unsere Erde um die Sonne zurücklegt: Etwa 940 Millionen Kilometer ist er lang, und der Planet genehmigt sich für sie präzise 365 Tage, fünf Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden. Bis ins Allerkleinste objektivieren Atomuhren die Zeit, so die Cäsiumstrahl-Uhr mit der Bezeichnung CS2, die seit 1991 in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig das Zeitnormal für die deutschen Funkuhren bereitstellt; seine Messung baut darauf, dass ein Cäsiumatom in der Sekunde 9 192 631 770 Mal schwingt. Am akkuratesten verfährt das Exemplar, das der Physiker Andrew Ludlow 2013 im National Institute of Standards and Technology im US-amerikanischen Boulder entwickelte, wofür er tiefgekühlte Strontiumatome heranzog: Bei ihm weicht ein Zeitintervall vom nächsten um höchstens anderthalb Trillionstel Sekunden ab; damit läuft die Maschine zehn Mal präziser als ihre Vorgängerinnen.
Die Schwingung von Atomen aufzunehmen, sind unsere Sinnesorgane wahrlich nicht geschaffen. Ohne Behelf vermag unser Verstand Zeit lediglich durch subjektive Eindrücke aufzufassen, nicht zuletzt, weil Empfindungen von Lust oder Unlust die Tiefe eines Eindrucks, will sagen: seine gefühlte Dauer statuieren. Darum erscheinen uns dreißig Minuten Liebesspiel viel kürzer zu währen als fünf schmerzvolle Minuten einer Kieferabszessbehandlung. Als etwas Uneigentliches, höchstens Relatives erleben wir Menschen die Zeit: Im Grund genommen ist sie für uns nichts, das „weitergeht“, sondern ein Medium, in dem wir uns bewegen, indem wir es durchqueren.
Wenn wir schon so gute Gründe finden, gewohnheitsmäßige Vorstellungen von Zeit infrage zu stellen, so haben wir auch keinen Anlass, ihr in Gestalt der Gegenwart zu vertrauen. Die ist ein Kommen und Gehen: Sie geht uns verloren und kommt uns abhanden. Betrachten wir sie genau, so entzieht die sich der Greifbarkeit wie die Zeit selbst. In Windeseile wird zu Geschichte, was wir eben noch konkret erlebten. Immer höher türmen sich Fakten-, Ereignis-, Erinnerungsmengen auf, die wir zu sichten, zu ordnen, womöglich zu dokumentieren, zu archivieren haben. Welches Gedächtnis fasst wohl so viel? Wo legen wir, gerissen in einen Strudel sozialer und militärischer, kultureller, technischer, moralischer Veränderungen – den geistigen Finger auf fixe Punkte, die Orientierung erlauben. Mit gewaltigen Datenspeichern behelfen wir uns. Mit Museen auch: Fast 7000, von der erlesenen Kunst- bis zur possierlichen Teddybärensammlung, gibt es in der Republik (die meisten in Baden-Württemberg und Bayern), 114,4 Millionen Besuche verzeichneten sie 2018.
„Weder die Zukunft noch die Vergangenheit ist“, schrieb schon der antike, 430 verblichene Kirchenvater Augustinus von Hippo, und in der Gegenwart erahnen wir gerade mal ein mageres Jetzt zwischen dem nichtexistenten Nicht-mehr und dem nichtexistenten Noch-nicht, einen gleichsam submikroskopischen ‚Augenblick‘, wie ihn der schwedische Philosoph Søren Kierkegaard verstand: ein „Zweideutiges, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren“. Leider geriet der (oder das) Nu außer Gebrauch; dabei gibt das Wörtchen durch seine Winzigkeit die Kürze jener denkbar kleinen Zeitspanne trefflich wieder. Zwischen vermeintlich unendlicher Vergangenheit und zum Schein unerschöpflicher Zukunft zwängt unsere Wahrnehmung die Gegenwart ein, als wäre sie ein Moment labiler Gewissheit zwischen Fragmenten zweifelhafter Erinnerungen und hypothetischer Erwartungen.
Trotzdem halten wir uns an ihr, einem Atom im Riesenmolekül Zeit, fest und versuchen, sie sinngebend und zu unserem Segen auszuschöpfen: Carpe diem – „pflücke den Tag“, genieße die Zeit! Neben die altrömische Devise des Dichters Horaz postiert sich als antikes Pendant die Vorstellung der Griechen vom kairos, vom günstigsten, leider flüchtigen Augenblick im chronos, im fortdauernden Zeitstrom. Den kairos gilt es unverweilt und mutig zu ergreifen und zu nutzen. Daseins-Topografie: Im Möglichkeitsraum des Lebens bezeichnet dieser Zeitpunkt X einen Ort, an dem sich die Chance der Chancen bietet, die Gelegenheit, die den meisten Ertrag verspricht, eine beim Schopf zu packende goldene Sekunde. Allegorisch tritt sie in der griechischen Mythologie auf: Kairos ist ein Sohn des Göttervaters Zeus; sein Hinterhaupt ist haarlos, während über seiner Stirn eine umso dichtere Tolle flattert.
Eine Sekunde, nicht viel mehr. Denn nichts hat Bestand außer dem Wandel, und für ihn, für die Veränderung, ist die Zeit das Medium.