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All die ungelebten Leben. Michaela Abresch
Читать онлайн.Название All die ungelebten Leben
Год выпуска 0
isbn 9783862827350
Автор произведения Michaela Abresch
Жанр Современная зарубежная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
»Bin müde, ich ruhe mich ein bisschen aus.«
»Möchtest du inhalieren? Dein Husten …«
Jane antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem leichten Kopfschütteln, ohne die Augen zu öffnen.
»Fahr zu Torolf«, sagte sie, »und mach dir zwei schöne Stunden.«
»Heute ganz alleine hier?« Er brachte ihr den bestellten Cappuccino. Mit einem Herz aus Kakao im Milchschaum und einem Mandelkeks auf dem Kaffeelöffel. Wie eine Mischung aus Trost und süßer Erinnerung stieg der Duft aus der Tasse in Gittes Nase.
»Meine Nichte ist im Sommerhaus geblieben«, erwiderte sie, ohne den Blick zu heben. Janes quälender Husten fiel ihr wieder ein. Und das Linderung versprechende Gerät zum Inhalieren. Sie hätte es Jane ans Bett stellen sollen.
»Sie hustet sehr oft heute, und die Müdigkeit setzt ihr zu.«
Mit dem Zeigefinger schob sie den Mandelkeks vom Löffel und begann gleich darauf mit diesem das Kakaoherz nachzuziehen. Im Kastanienbaum über ihr sang eine Amsel.
»Ich habe das Gefühl, seit wir auf Rømø sind, haben ihre Beschwerden sich verändert. Vielleicht war es ein Fehler, hierherzukommen. Ihr Arzt zuhause …« Sie unterbrach sich. Meine Güte, das interessierte Torolf wahrscheinlich überhaupt nicht! Sie sollte ihren Mund halten.
»Entschuldigen Sie, Torolf«, fügte sie rasch hinzu. Sie legte den Löffel auf die Untertasse und hob den Kopf. Erst jetzt bemerkte sie Torolfs Blick und den Ernst in seinem Gesicht, der alles andere als Desinteresse oder Langeweile signalisierte. Mit einer Hand strich er sich eine Haarsträhne hinters Ohr, eine Geste, die Gitte seit langem vertraut war. Er trug seine Haare noch immer schulterlang, früher waren sie blond gewesen, inzwischen jedoch ergraut, so wie ihre eigenen. Für einen Moment wurde der silberne Ring im Bogen seiner linken Ohrmuschel sichtbar.
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, sagte er mit der Andeutung eines Kopfschüttelns. Gitte schätzte ihn auf Mitte sechzig, etliche Jahre jünger als sie selbst.
»Und Sie sind immer noch ganz allein für Ihre Nichte da? Ich meine, ohne Hilfe?«, fragte er.
Ein junges Pärchen belegte den Nachbartisch und zog Gittes Aufmerksamkeit für einen Moment auf sich. Das Mädchen wand sich aus seiner Jeansjacke und hängte sie über die Stuhllehne. Der Junge beugte sich zu ihr herüber. Er küsste sie auf die rosa geschminkten Lippen. Sie kicherte. Ihr Haar fiel lang, blond und seidig über ihren Rücken. Wie bei Jane früher. Gitte zwang sich, den Blick abzuwenden.
Nur zwei von den kleinen runden Tischen unter den Kastanienbäumen waren besetzt. Gitte kannte Torolfs Café seit vielen Jahren. Es befand sich etwas abseits an der Straße nach Tvismark, nur wenige Autominuten vom Sommerhaus entfernt, in einem über zweihundert Jahre alten Gebäude, das ehemals an einen Bauernhof angeschlossen war und in jenen Tagen als Viehstall gedient hatte. Der unebene Fußboden aus abgenutzten, roten Ziegelsteinen und das Stützgebälk unter der hohen Decke zeugten davon. Gitte mochte die Einrichtung aus antiken und modernen Möbelstücken, die den Eindruck erweckte, als seien Stühle, Tische und die Kommoden an den Wänden beliebig zusammengestellt worden. Im Sommer steckten Wiesenblumen in bauchigen Gläsern, an trüben Tagen brannten Kerzen darin.
Bei Torolf gab es den besten Cappuccino der Insel und Kokoskuchen mit hausgemachtem Orangenkompott, eine Kombination, die Jane liebte. Geliebt hatte. Früher, als Kokoskuchen für sie noch nach Kokos und Orangenkompott nach Orangen geschmeckt hatten.
Gitte und Jane kamen gern hierher. Sie mochten es, an einem der Tische im Garten zu sitzen, wo die Vögel in den belaubten Kronen der alten Bäume sangen, während der Duft von gerösteten Kaffeebohnen die Luft schwängerte.
»Wir haben in den beiden letzten Jahren so oft zu zweit gekämpft, da werden wir es hier auch schaffen«, antwortete Gitte. Sie stellte fest, dass ihre Stimme nicht so zuversichtlich klang, wie sie es sich wünschte.
»Darf ich?«, fragte Torolf. Er zog sich einen Stuhl heran.
Gitte nickte und spürte, dass ihre Zustimmung nicht allein der Höflichkeit geschuldet war. Torolf strahlte eine wohltuende Ruhe aus, die sie nicht nur schätzte, sondern heute Nachmittag auch brauchte.
»Haben Sie denn alles, was nötig ist?«, fragte er. Meine Güte, er schien sich tatsächlich für sie und Jane zu interessieren!
»Mein Sommerhaus ist ausgestattet wie eine Krankenstation«, erwiderte sie. Während sie sprach, tauchte sie den Kaffeelöffel in den Milchschaum. »Zuhause wird Jane von einem Palliativ-Team betreut. Ihr Arzt hat sie eingedeckt mit Medikamenten gegen alles, was man sich vorstellen kann: Atemnot, Angst, Schmerzen, Übelkeit, Verstopfung. Auf einem Plan kann sie nachlesen, welche Medikamente sie regelmäßig zu nehmen hat und welche bei Bedarf. Wir haben einen Inhalator mit Kochsalzlösung und den entsprechenden Medikamenten bei uns, außerdem Salben gegen Entzündungen der Haut und Spülungen für den Mund. Wir sind ausgerüstet mit einem Krankenbett, mit Kissen zum Stützen und Lagern, und ich besitze einen Kräutergarten, der das Herz jedes Heilkundigen vor Freude tanzen lässt. Sie sehen, wir haben alles, was notwendig ist, und glauben Sie mir, Torolf, ich habe in den letzten fünf Jahren so vieles gelernt, dass ich einer Krankenschwester spielend das Wasser reichen könnte!« Es gelang ihr, zu lächeln, und Torolf hob anerkennend die Augenbrauen.
»Die Tochter einer Bekannten arbeitet in Skærbæk bei einem Pflegedienst«, sagte er. »Wenn Sie mögen, bringe ich Ihnen beim nächsten Mal die Telefonnummer mit, nur für den Fall, dass …«
»Das ist sehr liebenswürdig.« Gitte hatte das Kakaoherz inzwischen untergerührt. Sie legte den Löffel auf ihre Serviette. »Ich hoffe zwar, dass es nicht nötig sein wird, aber Sie haben Recht, man weiß nie.« Sie führte die Tasse zum Mund. Ein kleiner weißer Schaumrest setzte sich auf der Mitte ihrer Oberlippe ab.
»Jane ist Krankenschwester«, sagte sie. »Das ist Fluch und Segen zugleich.«
Torolf lächelte. »Möchten Sie mir etwas über Ihre Nichte erzählen?«
Möchte ich das? Darf ich das? Hätte Jane etwas dagegen, wenn sie Torolf ohne ihr Wissen, ohne ihr Einverständnis ein paar Dinge erzählen würde? Gitte und Torolf kannten einander seit vielen Jahren, aber was wusste sie schon von ihm?
»Wie lange kennen wir uns inzwischen, Torolf?«, fragte sie. Mit der Fingerspitze wischte sie den Schaumrest von der Oberlippe.
»Ich habe die Jahre nicht gezählt«, erwiderte er. »Es dürften eine Menge sein. Als Sie zum ersten Mal hierher ins Café kamen, waren Ihre Nichten noch kleine Mädchen, und wenn ich mich richtig erinnere, hatten Sie nur die beiden älteren bei sich.«
Und heute ist nur die Jüngste bei mir …
Erstaunt über sein Gedächtnis erwiderte sie seinen Blick. »Daran erinnern Sie sich! Ja, ich habe das Haus gekauft, bevor Jane geboren wurde. Selma war neun und Mascha vier, als wir zum ersten Mal die Ferien in Lakolk verbrachten. Damals standen hier längst nicht so viele Ferienhäuser wie heute. Wir stromerten ganze Vormittage mit Eimern am Strand entlang und sammelten Muscheln und Treibholz. Die Mädchen mochten es, wenn wir abends ein Feuer neben dem Haus machten, Würstchen brieten und Kartoffeln in der Glut garten, bis die Schale verkohlt war. Ich verbrachte fast die gesamten Sommerferien mit den Mädchen hier, und mir ging das Herz auf, ihnen zuzusehen, wie sie aufblühten. Als Jane drei war, nahm ich auch sie mit. Aber vorher war ein Kampf auszufechten. Ich erinnere mich an einen Streit mit Therese, der mir fast das Herz zerrissen hat, weil sie so ein Sturkopf war und ich … na ja, ich wohl auch.«
»Therese?«
»Die Mutter der Mädchen, die Frau meines Halbbruders Emil. Und meine Freundin. Im Grunde andersherum.«
Torolf runzelte die Stirn.
»Die Reihenfolge ist falsch«, fügte Gitte erklärend hinzu, aber sie sah ihm an, dass ihn die zusätzliche